INGRID BECKER Grube zugeschüttet
Vor acht Jahren benötigte sie eine Sondergenehmigung, um schon mit 17 Jahren bei Olympischen Spielen hochspringen zu dürfen: 1960 in Rom war Ingrid Becker Deutschlands jüngste Olympiateilnehmerin. In Mexico City erkämpfte sie am letzten Mittwoch im Fünfkampf die erste Goldmedaille für die Bundesrepublik.
Zum zweitenmal erst wurde der leichtathletische Fünfkampf der Frauen bei Olympischen Spielen bestritten. 1964 in Tokio beherrschten die Russinnen Irina Press (Goldmedaille) und Galina Bystrowa (Bronzemedaille) die Konkurrenz. Als die Leichtathletik-Funktionäre jedoch Sex-Tests zur genauen Bestimmung des Geschlechts anordneten, traten die schwerathletischen Leichtathletik-Damen aus der Sowjet-Union nicht mehr an. Der Fünfkampf wurde zur bundesdeutschen Domäne.
In ihrem westfälischen Heimatort Geseke hatte Ingrid Becker für die 600-Meter-Distanz (weibliche Jugend) trainiert. Fachleute entdeckten in ihr das größte Sprungtalent der deutschen Frauen-Leichtathletik und funktionierten sie auf den Hoch- und Weitsprung um. Auf Anhieb verbesserte sie 1960 den deutschen Hochsprung-Rekord.
Deshalb befreite sie der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) durch eine Ausnahme-Regelung von den Jugendschutzbestimmungen, die erst Athleten von mindestens 18 Jahren einen Start in der Klasse der Erwachsenen erlauben,
Damals arbeitete Ingrid Becker noch als Verkäuferin in einem westfälischen Konsumladen; ihr Klub, die LG Geseke, mußte eine Ersatzverkäuferin suchen, damit das Jung-Talent am Rom-Olympia teilnehmen konnte. Inzwischen ist sie in Lippstadt als Angestellte beschäftigt. »Ich mag mich nicht auf eine Disziplin spezialisieren«, begründete sie. »Das wäre langweilig.«
So versuchte sie sich auch im Sprint und Hürdenlauf. Im Hoch- und Weitsprung, dazu als Staffel-Sprinterin (auch in Mexiko lief sie in der deutschen Staffel) schaffte sie Rekorde, doch die günstigste Wettkampf -Disziplin bot sich im Fünfkampf an. In dieser Prüfung, die 80 Meter Hürden, Kugelstollen, Hoch-, Weitsprung und einen 200-Meter-Lauf nach einer Punktwertung zusammenfaßt, vermochte die bewegungsgeschickte Westfälin ihre Vielseitigkeit auszuspielen. Allein im Kugelstollen glückten ihr nur durchschnittliche Leistungen, weil sie intensives Krafttraining ablehnte. Weitsprung übte sie abends beim Licht ihrer Autoscheinwerfer 35 Kilometer vom Heimatort entfernt, weil in Geseke die Sprunggrube zugeschüttet worden war.
Im Olympiajahr 1968 häuften sich freilich Verletzungen: Eine Knöchelprellung behinderte ihr Training, und schließlich trieb sie sich eine Schere durch die rechte Hand, so daß sie auf die Vorbereitung im Kugelstollen ganz verzichten mußte.
Inzwischen war die Rheinländerin Heide Rosendahl zur Fünfkampf-Favoritin für Mexico City aufgerückt. Sie hatte die weltbeste Leistung dieses Jahres erzielt. Aber unmittelbar vor dem Start zerrte sie sich einen Muskel und schied kampflos aus.
Eine zweite Fünfkampf-Favoritin, die Engländerin Mary Rand, vermochte sich nicht mehr zu qualifizieren. Die attraktive Weitsprung-Olympiasiegerin von Tokio verließ während einer Romanze mit dem US-Zehnkampf meister William Toomey Mann und Kind und vernachlässigte ihr Training. In den letzten vorolympischen Monaten trachtete sie den Rückstand durch eine Gewaltanstrengung aufzuholen, aber eine Verletzung stoppte sie. Nun kommentierte Mary Rand Kampf und Sieg ihrer Konkurrentin aus der BBC-Kabine für das Fernsehvolk in Großbritannien.
im Kugelstoßen schienen sich die Hoffnungen der deutschen Equipe zu zerschlagen. Ingrid Becker glückte nicht einmal ihre Normalleistung. »Aus Trotz bin ich dann so hoch gesprungen wie zuletzt vor acht Jahren«, erklärte die Olympiasiegerin ihren Hochsprung: Während eines Wolkenbruchs schnellte sie über die bundesdeutsche Rekordhöhe von 1,71 Meter. Manon Bornholdt, 18, die zweite deutsche Fünfkämpferin, hielt ihr unter einem Regenschirm den Trainingsanzug trocken. »Als mir der letzte Weitsprung gut gelang«, analysierte Ingrid Becker, »wußte ich, daß ich siegen könnte.«
Für den abschließenden 200-Meter-Lauf hatte sie sich ausgerechnet, wieviel Vorsprung sie vor der bis zur vorletzten Übung führenden Österreicherin Liesel Prokop benötigte: »Notfalls hätte ich noch schneller laufen können.«