FUSSBALL Häppchen in der Baracke
Der Tag, an dem für Nils Arne Eggen »das Unmögliche möglich« wurde, war der 4. Dezember 1996.
An diesem lausig kalten Mittwochabend gastiert der Trainer des norwegischen Fußballclubs Rosenborg Trondheim mit seinem Team im San Siro Stadion. Trondheim muss beim AC Mailand gewinnen, um die nächste Runde der Champions League zu erreichen - die Buchmacher grinsen mitleidig jeden Wettnarren an, der sein Geld auf die Skandinavier setzt. Doch was passiert? Rosenborg siegt 2:1.
»Rosenheim Trondborg«, höhnte der RTL-Sachverständige Franz Beckenbauer damals im Fernsehstudio, und sein Wort-
* Im Zweikampf mit dem Dortmunder Jürgen Kohler beim 3:0-Sieg am 19. Oktober im Westfalenstadion.
verdreher klang so abschätzig, als wollte er ein für alle Mal klarstellen: Zwerge wie die von der Packeisgrenze haben im exklusiven Champions-League-Zirkel nichts verloren.
Inzwischen hat der wendige Fußball-Kaiser seine Meinung korrigiert. Rosenborg, in der europäischen Edelliga Ende des Monats Gruppengegner des FC Bayern, wird von Beckenbauer längst als »Geheimfavorit« geachtet.
Schließlich haben nur wenige Mannschaften die zweite Runde der Champions League so souverän erreicht wie die Norweger. Prominentestes Opfer ihrer offensiven Spielkultur: der Titelträger von 1997, Borussia Dortmund. »Die ziehen das Visier runter, geben 90 Minuten Vollgas und haben auch noch Spaß dabei«, schwärmt Michael Meier, Manager der Westfalen, über die Lehrstunde.
Inmitten einer Gesellschaft, in der sich die reichen Clubs jedes Jahr eine neue Weltauswahl zusammenkaufen, wirkt Rosenborg Trondheim wie ein Relikt aus der Gründerzeit des Europapokals. Geradezu paradox mutet an, dass der norwegische Fußball ausgerechnet in jenem Jahrzehnt erstrahlt, in dem viele Experten weismachen wollen, dass internationale Konkurrenzfähigkeit den Erwerb millionenteurer Stars voraussetzt.
In einer Zeit, in der Bayern Münchens Vizepräsident Karl-Heinz Rummenigge eine Verdopplung der TV-Gelder fordert, »um uns in den Top Five in Europa halten zu können«, lehrt Trondheim, dass ein Jahresbudget von rund 25 Millionen Mark (FC Bayern: rund 210 Millionen Mark) für Spitzenfußball ausreichen kann.
Und das scheint andere Vereine zu beflügeln: Vizemeister Molde FK schaltete in der Qualifikation zur Champions League den spanischen Spitzenclub Real Mallorca aus.
Auch die Nationalmannschaft hat sich Respekt verschafft: Zweimal haben die Norweger in den beiden vergangenen Jahren Brasilien bezwungen. Und vor wenigen Wochen qualifizierte sich das Team ohne erkennbare Mühe zum ersten Mal für eine Europameisterschaft.
Da kommt das Freundschaftsspiel am Sonntag gegen Titelverteidiger Deutschland gerade recht. Rune Bratseth, jahrelang Abwehrchef bei Werder Bremen und seit 1994 Manager von Rosenborg Trondheim, orakelt: »Ich wäre überrascht, wenn die Deutschen in Oslo gewinnen.«
Zwar leben in Norwegen deutlich weniger Menschen (4,4 Millionen), als der Deutsche Fußball-Bund Mitglieder zählt (6,2 Millionen), doch die Ressourcen werden optimal genutzt. Wie wohl in keinem anderen Land wurde die Ausbildung für Fußballer in den letzten zehn Jahren verbessert. Der Verband engagierte mehr als ein Dutzend hauptberuflicher Trainer, die sich zwischen Oslo und Hammerfest ausschließlich um die Förderung von Talenten kümmern.
Der Plan geht auf. Von landesweit 300 000 Spielern sind mehr als zwei Drittel unter 15 Jahre alt. Selbst nördlich des Polarkreises können die Kicker das ganze Jahr trainieren - Norwegen leistet sich mittlerweile mehr als 60 Großfeldhallen mit Kunstrasen.
Um den langen Wintern zu entfliehen, hat sich der Fußballverband gar einen mediterranen Stützpunkt errichtet. In La Manga bei Alicante entstand eines der größten und modernsten Trainingszentren Europas. Alle norwegischen Erstligisten können die Anlage nutzen. Auch ausländische Gäste sind gern gesehen. Alex Ferguson, der Coach von Champions-League-Gewinner Manchester United, zeigte sich nach einem Trainingslager beeindruckt: »Wir kommen wieder.«
Rosenborg Trondheim hat sich trotz aller Zugeständnisse an den Zeitgeist - im nächsten Jahr wird das Lerkendal-Stadion für 100 Millionen Mark in eine reine Fußballarena umgebaut - Erdnähe bewahrt. Die Geschäftsstelle ist in einer einstöckigen Baracke untergebracht, die von den deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg als Proviantlager errichtet worden war.
Rune Bratseth schenkt Kaffee aus einer Thermoskanne nach und bedient sich am Büfett. Gereicht werden Roastbeefhäppchen und Obstsalat, übrig geblieben vom Vorabend beim Champions-League-Spiel gegen Boavista Porto. Der Manager hat sich an einem großen Tisch im Gemeinschaftsraum niedergelassen, dem Wohnzimmer des Vereins. Morgens um halb sieben wird der »husrom« aufgeschlossen, gegen Mitternacht sperrt ihn der Hausmeister wieder zu.
Hier hocken sie und reden über Fußball: Spieler, Vereinsbosse, Autogrammjäger, Schulkinder, Rentner und Journalisten. Bratseth deutet auf die Grüppchen. »Rosenborg-Denken«, sagt er knapp. Was er damit meint: sieben Tage in der Woche ein offenes Haus zu haben. Und sieben Tage in der Woche auf dem Boden zu bleiben. Wer für Rosenborg stürmt, putzt seine Fußballschuhe selber und bekennt sich dazu wie Torjäger John Carew: »Sonst würde ich sie nicht tragen.«
Die Autos, die die Spieler vor der Baracke abgestellt haben, könnten auch auf dem Personalparkplatz der Hafenpolizei von Trondheim stehen: Golf, Passat, Vectra.
Zwar zahlt kein Fußballverein in Norwegen so gut wie Rosenborg, die Spieler kassieren im Schnitt ein Grundgehalt von 200 000 Mark. Aber das entspricht in Deutschland der Gage von manchem Drittligakicker. »Gibt es einen vernünftigen Grund«, fragt Nils Arne Eggen spitz, »warum ein Fußballer doppelt so viel erhält wie der Ministerpräsident?«
Da kommt der Trainer in seinem kaum zehn Quadratmeter großen Büro so richtig in Rage. Er senkt seinen Kopf, so dass sein Kinn eine dicke Falte wirft, und schaut herausfordernd über den Rand seiner Lesebrille. Ein »sozialer Demokrat« sei er, bekräftigt Eggen, und so ist es ihm ein Gräuel, wenn Vereine die Spieler mit Geld zuschmeißen.
Ronaldo in Mailand? David Beckham in Manchester? Nicolas Anelka in Madrid? »Nein danke«, brummelt Eggen, »die haben doch die Motivation verloren, sich zu bewegen.«
Kürzlich klingelte bei ihm das Telefon. Der FC Liverpool war dran. Eggen hörte sich die Offerte an und lehnte dankend ab - er ist nicht kompatibel. Denn er verachtet Clubs, die eine Mannschaft zusammenkaufen. Er will eine Mannschaft zusammenbauen.
Mit zwei kurzen Unterbrechungen arbeitet Eggen deshalb seit 1978 bei Rosenborg Trondheim - nicht mal das Angebot des früheren Premiers Thorbjörn Jagland, ein Ministeramt zu übernehmen, hat ihn fortlocken können.
Es ist diese Kontinuität, die den Stil und die Spielweise des Vereins geprägt haben. Eggen ist ein Pedant. Beim täglichen Training triezt er seine Kicker mit einstudierten Angriffsvarianten wie ein Lateinlehrer seine Klasse mit dem Konjugieren unregelmäßiger Verben.
»Schattentraining« nennt er das. Auf die Idee hat ihn einst Hennes Weisweiler gebracht. In den siebziger Jahren reiste Eggen zu Bildungszwecken nach Deutschland, um an Vorlesungen des Trainergurus teilzunehmen. Und weil er von dessen Traktat »Der Fußball« so angetan war, übersetzte er es ins Norwegische, genauso wie die Schrift »Neue Fußball-Lehre«. Im Okto-
ber hat Eggen ein eigenes Buch herausgebracht: »Auf gutem Fuß« erzählt die Erfolgsstory von Rosenborg. 25 000 Exemplare seien schon verkauft, erwähnt er beiläufig, mithin ein Bestseller.
Eggen gilt als Sturkopf. Manager Bratseth flachst, der Trainer diskutiere nicht, sondern er beiße, was ihn auf den Beinamen »Pit Bull« brachte. Doch Bratseths Sarkasmus wirkt leicht gekünstelt. Denn die wichtigsten Prinzipien Eggens vertritt der Manager wie seine eigenen.
So wird das Vollprofitum in Trondheim als Irrweg der Evolution betrachtet. Ein Drittel ihrer freien Zeit sollen die Spieler ihren Studien oder erlernten Berufen nachgehen. »Fußballer«, nölt Eggen, »werfen sich doch sonst nach dem Training nur aufs Sofa und schauen schlechte Filme.«
Die Mehrheit der Mannschaft hält sich an den Ukas. Kapitän Erik Hoftun betätigt sich nebenher als Sozialarbeiter, Mittelfeldspieler Fredrik Winsnes studiert Medizin, und Stürmer Mini Jakobsen schafft bei einer TV-Produktionsgesellschaft.
Noch auffälliger als die Teilzeitarbeit markiert den Trondheimer Sonderweg allerdings der weitgehende Verzicht auf Ausländer. 22 Spieler stehen momentan im Rosenborg-Kader - bis auf den isländischen Ersatztorhüter stammen alle aus Norwegen. Zum Vergleich: Glasgow Rangers lief vorige Woche in München mit nur einem schottischen Profi auf, Chelsea London trat gegen Hertha BSC mit zwei Engländern an.
Eggen hebt seine Schultern, als bitte er um Verständnis: keine andere Wahl. »Ausländer, die uns voranbringen«, sagt er, »kommen nicht nach Norwegen.« Sein bedachter Blick auf den Nachwuchs im eigenen Land ist deshalb so etwas wie der Sieg der Vernunft in einem Gewerbe, in dem sich Manager vermehrt über die »Söldnermentalität« ihrer Profis beklagen.
So lamentiert der Dortmunder Michael Meier: »Die Identifikation mit dem Verein hat gelitten.« Und das habe Folgen: Die Mentalität sei entscheidend dafür, »ob man ganz großen Erfolg hat oder mittelmäßigen«.
Rosenborg hat ein anderes Problem. Denn immer wieder werden die Leistungsträger von ausländischen Vereinen abgeworben. Seit Anfang 1997 verließen sieben der wichtigsten Spieler den Club.
Einer verabschiedete sich, typisch für Trondheimer Umgangsformen, mit einer noblen Geste. Obwohl sein Wechsel zu Celtic Glasgow beschlossene Sache war, verlängerte Harald Brattbakk seinen Vertrag bei Rosenborg noch einmal um fünf Jahre. Der Stürmer verzichtete auf ein Handgeld der Schotten - dafür erhielt Trondheim sechs Millionen Mark Ablöse. MICHAEL WULZINGER
* Im Zweikampf mit dem Dortmunder Jürgen Kohler beim 3:0-Siegam 19. Oktober im Westfalenstadion.