Corona-Ausbrüche, Teamabsagen, viel zu kurze Isolation im Vorfeld des Turniers: Die Handball-WM steht kurz vor der Implosion. Um sich selbst einen Gefallen zu tun, müsste der Verband das Turnier absagen.
Die Corona-Einschläge haben die Handball-WM in Ägypten bereits erreicht, obwohl das Turnier noch nicht einmal begonnen hat.
Erst sagte Tschechien (17 positive Fälle) ab, anschließend folgten die USA (19 Fälle), Brasilien droht der nächste Streichkandidat zu werden, auch Kap Verde soll von mehreren Corona-Fällen betroffen sein. Die Implosion ist nahe, und die Ausbrüche in der Breite sind so extrem, dass man sie als Warnsignal nicht mehr übersehen kann.
Eine WM-Absage wäre angebracht, nahe liegend, wenn auch folgenreich. Für den ohnehin nicht besonders gut betuchten Handballsport geht es um viel. Er hat auf das Handballer-Motto gesetzt: Augen zu und durch, hart sein. Besser wäre es gewesen, einen Ersatztermin zu finden. Das haben viele andere Sportveranstalter auch geschafft, sogar im vergangenen Sommer verzichteten viele auf ihr Turnier, als die Corona-Lage deutlich entspannter war und als noch keine nachgewiesenen Corona-Mutanten anfingen, um die Welt gehen.
Eine Absage wäre eine Maßnahme, die dem Handball gut zu Gesicht stehen würde, gibt er sich doch in seinem Selbstbild stets rücksichtsvoll und bodenständig. Charaktereigenschaften, die in der Pandemie gebraucht werden. Auch, wenn es richtig wehtut. Einige Spieler vom THW Kiel haben das sogar geschafft, und sie sagten ihre WM-Teilnahme ab – trotzdem wurden sie aus dem eigenen Lager kritisiert. Der Handball ist gerade dabei, viele Sympathien zu verspielen. Ein Imageschaden kann auf Dauer noch teurer werden als eine abgesagte WM.
Dass Weltverband und Ausrichter sich zu einer Absage durchringen, ist nicht abzusehen. Bis zuletzt sollten noch Zuschauer in die Hallen gelassen werden, die Spieler mussten erst dagegen protestieren, bis endlich Einsicht einkehrte. Doch hätte man bei der weiteren Turnierplanung ein bisschen mehr Vorsicht angesichts der jüngsten Ausbrüche erwarten können. Stattdessen kommt nun ein Hauruckverfahren zum Einsatz.
Der schiefe Vergleich mit der NBA
Nordmazedonien und die Schweiz wurden nachnominiert, insgesamt hatte der Verband im Vorfeld sechs Nachrückerkandidaten festgelegt. Aber auch hier muss man zweifeln: Die Schweiz wird am Donnerstag in die »Blase« von Kairo einziehen – und soll noch am selben Abend gegen Österreich spielen. Die Inkubationszeit bei Corona liegt im Mittel bei fünf bis sechs Tagen. Sollte sich also beispielsweise ein Schweizer Nationalspieler während der Anreise nach Kairo angesteckt haben, wüsste man das womöglich erst nach dem ersten Spiel. In die Blase eingezogen wäre er schon.
Handballfunktionäre wie Deutschlands Präsident Andreas Michelmann oder Bob Hanning hatten von der Bundesliga einen Vertrauensvorschuss erbeten. Es werde mit der WM schon funktionieren, immer wieder wurde an die Hygienekonzepte vor anderen Sportveranstaltungen erinnert, an das der Champions League der Fußballer im August in Lissabon oder das der NBA in Disney World. Bundestrainer Alfred Gíslason sagte zuletzt, dass das Handball-Konzept an das der US-Basketballliga erinnere.
Aber mit Erinnerungen ist es ja so eine Sache. Hier eine kleine Auffrischung:
Mit einem Fünfphasenmodell ist die NBA im vergangenen Sommer ihre Saisonfortsetzung in Disney World angegangen. Ganz zu Beginn mussten die Spieler wieder an die Heimatorte ihrer Klubs reisen (Phase 1), anschließend wurden regelmäßige Tests durchgeführt (Phase 2), danach begann das Einzeltraining (Phase 3), dann das Mannschaftstraining (Phase 4) und erst dann – als immer sicherer wurde, dass man einen Corona-Ausbruch im Team nahezu ausschließen konnte – zogen die Teams in die Blase von Disney World mit Hotelisolation (Phase 5). Anschließend folgte der Spielbetrieb.
Für dieses ganze Verfahren nahm sich die NBA fast zwei Monate Zeit, es kostete viel Geld, es bot keine hundertprozentige Sicherheit, auch hier kam es zu vereinzelten Corona-Fällen, aber nicht zu Ausbrüchen. Der Aufwand war der weltweiten Situation angemessen. Es ist keine Übertreibung, das NBA-Vorgehen als Leuchtturm für Sportveranstaltungen während der Corona-Pandemie zu bezeichnen.
Im Handball steckt weniger Geld, eine Nationalmannschaft kann Spieler auch nicht Wochen im Voraus isolieren, da die Profis nicht in der Nationalauswahl, sondern im Verein angestellt sind. Äpfel und Birnen. Eine WM ist kein Vereinswettbewerb. Trotzdem haben DHB und andere Verbände immer wieder höchstselbst für ihr Turnier geworben, weil ihre Blase jener der NBA ähnlich sei. Ohne die wochenlange Isolation im Vorfeld ist sie das jedoch nicht. Man sieht es an Brasilien und Kap Verde, die in ihren Reihen viele positive Fälle beklagen – und trotzdem, Stand jetzt, mit einem aktiven Ausbruchsgeschehen in die Blase von Kairo einziehen werden.
Zum Verständnis: Eine Blase soll verhindern, dass das Virus von außerhalb angreift. Einen Angriff aus dem Inneren kann sie kaum verhindern.
In Ägypten hat der Verband gerade einmal vier Hotels angemietet, in denen alle 32 Nationen sowie Funktionäre und Journalisten unterkommen werden. Ein positiver Fall innerhalb einer Hotelblase könnte verheerende Folgen haben. Man erinnere sich nur an die zahlreichen Ausbrüche in der Kreuzfahrtindustrie, die auch deswegen so extrem wurden, weil viele Menschen auf engem Raum versammelt waren. Dem Handball droht bei der WM Schiffbruch.