Deutsche Handballer verlieren gegen Spanien Die Zehn-Minuten-Hölle

Sie lagen mit drei Toren vorn – dann klappte nichts mehr. »Das haben wir uns selbst kaputt gemacht«, sagte DHB-Coach Alfred Gíslason. Nun droht das WM-Aus, und doch hat der Auftritt gegen Spanien auch Mut gemacht.
Johannes Bitter und Teamkollegen nach der Niederlage gegen Spanien

Johannes Bitter und Teamkollegen nach der Niederlage gegen Spanien

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PETR DAVID JOSEK / AFP

Minuten des Frusts: Es war die 44. Minute, als Philipp Weber die deutsche Führung gegen Europameister Spanien auf 25:22 ausbaute. Plötzlich sah es so aus, als könne die DHB-Auswahl für eine Überraschung sorgen. Doch dann folgte der Bruch: ein Ballverlust von Juri Knorr, ein Fehlwurf von Uwe Gensheimer aus freier Position, der erste verworfene Siebenmeter von Marcel Schiller bei der Weltmeisterschaft in Ägypten, die Rote Karte gegen Sebastian Firnhaber, insgesamt acht Gegentore und nur ein eigener Treffer. Nichts klappte, alles ging verloren. Ziemlich genau zehn Minuten nach Webers Tor war aus der deutschen Drei-Punkte-Führung ein 26:30-Rückstand geworden.

Ergebnis des Spiels: Gegen Ende der TV-Übertragung im ZDF sah man Alfred Gíslason. Der Bundestrainer saß regungslos auf seinem Trainerstuhl und blickte ins Nichts. Seine unerfahrene Auswahl hatte ein aufregendes Spiel gegen Spanien gezeigt, aber auch fürchterliche zehn Minuten. »Einfach zu viel Risiko. Das haben wir uns selbst kaputt gemacht«, sagte Gislason wenig später über diese Phase und das Spiel, das die deutschen Handballer 28:32 (13:16) verloren hatten. Bereits nach der ersten Partie in der Hauptrunde ist das Viertelfinale für die DHB-Auswahl nur noch sehr schwer zu erreichen.

Der Start: »Gegen die deutsche Mannschaft spielt man nie gern«, hatte ZDF-Experte Markus Baur kurz vor Anwurf noch gesagt. Der Spruch des Weltmeisters von 2007 wurde den aktuellen Kräfteverhältnissen nicht ganz gerecht: Hier die junge, unerfahrene deutsche Auswahl, die gerade erst gegen Ungarn verloren hatte, da der Gegner, der mit nahezu derselben Mannschaft antrat, die bei der EM 2018 und 2020 triumphiert hatte. Auf dem Papier sah es nicht nach einem Vergleich auf Augenhöhe aus. Doch dann war der Start der deutschen Handballer durchaus vielversprechend.

Viel Mühe, einfache Gegentore: Der Spielstand blieb lange eng. Wie hart der Kampf der DHB-Auswahl allerdings auch war, zeigte sich besonders zwischen der 14. und 15. Minute, als sich Paul Drux zwei Fehlwürfe leistete. Die Deutschen liefen an und mühten sich, Lücken in der spanischen Hintermannschaft aufzureißen. Doch sie standen vor einer Wand. Bei den zwei missglückten Würfen von Drux innerhalb von nur 14 Sekunden kam Spanien gleich zu zwei Tempogegenstößen und dabei zu zwei einfachen Toren. Die deutschen Handballer schufteten, die Tore des Gegners sahen ganz einfach aus.

Bitter für Wolff: Der größte Abend in der Karriere von Andreas Wolff liegt fast fünf Jahre zurück, das EM-Finale 2016 gegen Spanien. Wolff, damals erst 24 Jahre jung, Keeper der HSG Wetzlar, war ein weitgehend Unbekannter. Doch in jenem Endspiel kam er auf eine Abwehrquote von fast 50 Prozent – und der Torwart führte Deutschland zum EM-Titel und sich selbst ins All-Star-Team. Eine solch herausragende Torwartleistung hätte die DHB-Auswahl in der ersten Hälfte benötigt, doch Wolff wehrte lediglich vier von 18 Würfen ab, aber auch, weil Spanien zu oft in Überzahl vor seinem Tor auftauchte. Kurz vor der Halbzeitpause kam Johannes Bitter für ihn.

Rechts Kai Häfner, links mit Ángel Fernández Pérez (sechs Treffer) der erfolgreichste spanische Werfer

Rechts Kai Häfner, links mit Ángel Fernández Pérez (sechs Treffer) der erfolgreichste spanische Werfer

Foto: Petr David Josek / AP

Jetzt wird aufgedreht: Timo Kastening war die Entdeckung der EM 2020, daran sollte man sich in der zweiten Hälfte gegen Spanien erinnern. In den ersten acht Minuten nach Wiederbeginn traf er viermal. Jetzt sah man wieder, wie schnell und abschlussstark der 25-Jährige ist. Kastening (sieben Treffer insgesamt) war mitverantwortlich, dass aus dem Pausenrückstand plötzlich eine Führung geworden war. Genauso wie Bitter, der in der zweiten Hälfte auf insgesamt zehn Paraden kam. Doch dann bauten sie und das gesamte Team ab, vor allem die Chancenverwertung »wurde zum Genickbruch«, sagte Gíslason später.

Ausblick I: Der DHB hatte das Viertelfinale als Ziel ausgegeben, doch für den Einzug in diese Runde bräuchte es inzwischen viel Glück. Deutschland (2:4 Punkte) müsste seine Spiele am Samstag gegen Brasilien (20.30 Uhr; TV: ZDF) und am Montag gegen Polen (20.30 Uhr; TV: ARD) gewinnen (was schon schwer genug wird) und Ungarn (6:0) und Spanien (5:1) müssten Punkte lassen.

Ausblick II: Noch ist Weltmeisterschaft, aber der Blick darf angesichts des drohenden WM-Ausscheidens schon etwas in die Zukunft gerichtet werden. Die deutschen Handballer wollen in diesem Jahr zu den Olympischen Sommerspielen nach Tokio, sofern diese in Zeiten der Corona-Pandemie stattfinden können. Für die Sommerspiele muss sich das Team erst noch qualifizieren, das soll voraussichtlich im Frühjahr passieren. So weh die Niederlage gegen Spanien tat, sie macht auch Mut. Spieler wie Patrick Wiencek und Hendrik Pekeler werden zurückkehren, das Team verstärken, und einige junge Akteure wie Juri Knorr oder Johannes Golla haben ihre ersten WM-Minuten gesammelt und werden Erfahrungen mitnehmen. Das deutsche Team wird in der Zukunft eher besser. Nicht schlechter.

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