Absagen vor der Handball-WM in Ägypten Deutschlands Abwehrblock bröckelt

Bei der WM freiwillig nicht mit dabei: Patrick Wiencek (links) und Hendrik Pekeler
Foto:Martin Rose/ Bongarts/Getty Images
Patrick Wiencek hatte vor vier Wochen den Anfang gemacht. Nun haben Hendrik Pekeler, Steffen Weinhold und Finn Lemke nachgezogen: Das Quartett, im Kader der deutschen Handball-Nationalmannschaft eigentlich gesetzt, verzichtet freiwillig auf die Weltmeisterschaft im Januar in Ägypten. »Die allgemeine Entwicklung der Corona-Pandemie« sei der Grund für seine Entscheidung, hatte Pekeler erklärt. Seine Mitspieler argumentierten ähnlich: Man wolle nicht zu einem Großturnier reisen und die eigenen Familien zu Hause im harten Lockdown alleinlassen.
Durch die Corona-bedingten Absagen verliert die deutsche Mannschaft ihr Prunkstück: den über Jahre eingespielten Defensivblock. Pekeler und Wiencek bilden einen Weltklasse-Mittelblock beim THW Kiel, den Bundestrainer Alfred Gíslason bis Sommer 2019 trainierte. Hinzu kommt, dass die beiden sich mit Torhüter Andreas Wolff, der ebenfalls bis 2019 in Kiel unter Vertrag stand, fast blind verstehen. Der Kieler Steffen Weinhold spielte auf der halbrechten Deckungsposition in diesem fein austarierten Konzept ebenfalls einen wichtigen Part. Gíslason hatte stets betont, seine Defensive auf diesen Block aufzubauen.
Der Melsunger Abwehrspezialist Finn Lemke, der als einer von mehreren Nationalspielern nach den EM-Qualifikationsspielen gegen Bosnien und in Estland im November positiv auf das Coronavirus getestet wurde, hatte beim sensationellen EM-Triumph 2016 mit Pekeler brilliert. Gislason lobte den 2,10 Meter großen Mittelblocker zuletzt als wichtiges Element in der Deckung in höchsten Tönen. Die Absage Lemkes kommt wenig überraschend. Nach seiner Corona-Erkrankung hatte er enorme körperliche Probleme. Im Heimspiel gegen Coburg musste er zuletzt geschont werden.
Vor diesem Hintergrund steht die WM-Teilnahme eines weiteren hochtalentierten Hoffnungsträgers ebenfalls in den Sternen: Der 20-jährige Juri Knorr (GWD Minden), der die lange vorhandene Leerstelle im mittleren Rückraum der DHB-Auswahl ausfüllen soll, war nach den EM-Qualifikationen am schwersten an Covid-19 erkrankt. Bislang ist er in der Bundesliga noch nicht wieder zum Einsatz gekommen. Völlig offen ist, ob Knorr überhaupt physisch in der Lage wäre, die enorme Belastung eines WM-Turniers zu bestehen – und ob das die Ärzte für verantwortbar halten. Jedenfalls hatten sich viele Beobachter über den Optimismus des DHB-Vizepräsidenten Bob Hanning gewundert. »Ich glaube, dass alle anderen die WM spielen«, hatte Hanning nach der Absage Wienceks erklärt.
Kahlschlag im Abwehrzentrum
Das größte Vakuum produzieren die Absagen aber für den Mittelblock. Dort hat Bundestrainer Alfred Gíslason nur noch wenige Alternativen zur Verfügung. Aus dem engeren Kader kommen dafür nun Marian Michalczik (Füchse Berlin) und Sebastian Heymann (Frisch AUF! Göppingen) infrage, eventuell auch Christian Dissinger (Skopje), den Gíslason eigentlich in der vorgezogenen Position einsetzen wollte. Auch Michalczik hat nach seiner Corona-Infektion allerdings noch nicht wieder gespielt. Sehr wahrscheinlich wird Gíslason deshalb den Erlanger Sebastian Firnhaber in das WM-Aufgebot berufen, der bisher noch kein Länderspiel absolviert hat – Firnhaber spielte ebenfalls einst im Kieler Mittelblock.
»Ich sehe das pragmatisch: Jeder Verlust ist auch eine Chance«, sagte Bundestrainer Gíslason. Angesichts der Tatsache, dass der deutsche Handball in Ägypten auf sämtliche Weltklasse-Mittelblocker verzichten muss, sinken die Medaillenchancen jedoch gen null. Dem isländischen Coach stehen vor dem WM-Turnier, das am 14. Januar 2021 beginnt, nur wenige Trainingseinheiten zur Verfügung.