Hauch von Anarchie
Als Drachenflieger Dr. Ernst Göttler vom 2543 Meter hohen Uludag bei Bursa in der Türkei durch die Wolken auf ein Feld niederschwebte, erstarrte unten ein türkischer Bauer vor Entsetzen. Er glaubte, nun hole ihn der Tod.
Mit dem Tod geraten jedoch viele Drachenflieger selbst auf Tuchfühlung. Auf 30 bis 40 Tote schätzte der Münchner Holger Machatschek, Gründer des ersten deutschen Drachenflieger-Klubs, die Zahl der jährlichen Unfallopfer allein im deutschsprachigen Bereich. In Großbritannien kamen seit 1974 mindestens neun Drachengleiter um, in der Schweiz 18, darunter der Ski-Olympiasieger Roger Staub.
Denn der Boom in Hängegleitern, wie das Luftfahrzeug offiziell heißt, in dem Flugromantiker sich dem Vogelflug näher wähnen als unter Fallschirmen oder im Segelflug, der Boom nährte auch einen Hauch von Anarchie.
In den letzten Jahren schwoll die Zahl der Lilienthal-Epigonen auf weit über 100 000 in der Welt an, davon mehr als 5000 in der Bundesrepublik.
»Mut zum Absprung aus 2000 Meter Höhe gehört dazu«, nannte Drachen-Pionier Machatschek die wichtigste Voraussetzung. »Eine richtige Landung ist butterweich -- wenn ich vom Bürostuhl springe, komme ich härter auf.« Notfalls müsse man einige Schritte mitlaufen. Mit 62 Jahren habe es auch der Exbürgermeister Anton Staudacher von Tegernsee noch gelernt.
Für geschäftstüchtige Branchenkenner öffnete sich ein neuer Markt. Allein in der Juni-Ausgabe des bundesdeutschen »Drachenflieger-Magazins«, unter Mitfliegern zünftig auf »DraMa« verkürzt, boten Inserenten 26 verschiedene Drachenmuster (Preise bis zu 3350 Mark) und 32 Drachenflugschulen (Kurskosten um 400 Mark) ihre Dienste an.
Da setzt einer unter Konkurrenz-Druck gar sein Leben ein: Der Münchner Zeno Diemer konkurrierte mit dem von ihm konstruierten leichten Bergsteiger-Drachen »Stratos« gegen den »Bergfex« des Diplomingenieurs Thomas Finsterwalder.
Der Rivale war mit seinem Bergfex als erster vom Kilimandscharo gesegelt. Nun wollte Diemer mit seinem Produkt vor allen anderen vom Matterhorn (4478 Meter) springen. Als er aufstieg, traf er zwei Österreicher mit ihren Fluggeräten. Trotz Nebel, Schnee und Windböen von 60 km/h starteten alle drei. Diemer zerschellte. Ein anderer Konstrukteur, Heinz Engel, kam um, als seine »Fledermaus« im Juni während des Fluges bei Davos zerbrach.
Engel und Diemer galten als erfahrene Drachenflieger. Aber jeder darf hängegleiten, ob er"s gelernt hat oder nicht; wer sich seinem Bastelgeschick anvertrauen mag, startet unbehindert auch im Eigenbau. Kein TÜV klopft Gestänge und Segel auf Flugtüchtigkeit ab. Anders als Fallschirmspringer bedürfen Drachenflieger nicht einmal einer Zulassung.
»Damit wäre der Staat überfordert«, winkte Flugkapitän Max Brandenburg ab, Chef der Unfallforschung beim Luftfahrt-Bundesamt in Braunschweig. »Drachenflieger bewegen sich ja mehr vertikal und sind deshalb keine richtigen Verkehrsteilnehmer. Aber auch der Luftsportverband Bayern steckt von den etwa 500 000 Mark Mitgliedsbeiträgen so gut wie nichts in die Sicherheit und Ausbildung seiner Hängegleiter.
Die acht für 1976 beim Bundesamt gemeldeten tödlich abgestürzten Drachenflieger -- Dunkelziffer unbekannt -- bieten einen Querschnitt der häufigsten Unfallursachen: Zwei kamen um, als sie sich von Autos anschleppen ließen, drei hatten ihr Gerät eigenmächtig geändert und damit den späteren Bruch vorprogrammiert. Einer hatte sein Segel falsch montiert. Nur ein Opfer war in eine unvermeidbare Turbulenz geraten. »Dideldumdei-flieg« ich halt mal runter«, beschrieb Hängegleiter Machatschek die wurstige Einstellung vorwiegend jugendlicher Drachenflieger. Auch der »Münchner Merkur« hält manchen »zuweilen von tödlichem Leichtsinn beseelt«.
Der Finne Seppo Korhonen, 28, wollte im Winter als erster einen doppelten Looping vorführen. Sein Drachen hielt dem Druck nicht stand. Das Gestänge verbog sich. Er stürzte aus 100 Meter Höhe in den Tod.
Einleuchtend, daß wie bei Unfällen im Straßenverkehr auch im Drachenfliegen Jungsportler und Anfänger an Unfällen überproportional beteiligt sind. 1977 meldeten Zeitungen schon zehn Todesstürze von sogenannten Sonderflugplätzen -- Bergkuppen -- im Luftraum der Alpen.
Im Februar sprang ein Vermessungstechniker vom Kolomannsberg ab. Als er nach einer Minute in der Nähe seiner Ehefrau und seines Vaters zur Landung ansetzte, trieb ihn eine Böe in die 25 000-Volt-Freileitung Unterach-Straßwalchen. Bevor der Strom aussetzte, flammte ein Lichtbogen auf, der den Unfaller so stark verbrannte, daß er nach acht Tagen starb.
Am Drachen des Bundeswehr-Majors Wolfgang Motzkus, 39, riß zu Pfingsten das Sitzbrett beim Flug vom 1864 Meter hohen Neunerköpfl in Tirol ab. In 150 Meter Höhe faltete sich das Drachensegel eines 24jährigen Drachenseglers plötzlich zusammen. Er prallte in einem Garten in Westendorf (Tirol) auf. Im April verunglückte Drachenflieger Hans Heumann. Er hatte vergessen, sich einzuhängen.
Doch die vielen Unglücksmeldungen mobilisierten mittlerweile einige Behörden. Seit Großbritannien 1976 Kontrollen einführte, wurden dort nur noch zehn Unfälle bekannt. Das Bundesverkehrsministerium begnügte sich bislang mit 1975 erlassenen »Richtlinien für Hängegleiter«. Sie sind allerdings so verbindlich wie die Anschnallpflicht für Autoinsassen.
Aber das Luftamt Süd in München, die für das am meisten betroffene Alpengebiet zuständige Filiale des Braunschweiger Luftfahrt-Bundesamtes, führte zusammen mit dem Landesverband Bayern der Drachenflieger immerhin schon einen sogenannten B-Schein für Hängegleiter ein. Österreich verlangt von Drachenfliegern einen Sonderpilotenschein, die Schweiz eine Hängegleiter-Lizenz.
Nach einer Bruchlandung und einem tödlichen Absturz im Juni erließ Bayern erstmals ein Flugverbot für das Unfallgerät, den Mydra-X-Drachen. Österreich zog ein Drachenmuster aus dem Verkehr, mit dem bei den Landesmeisterschaften zwei Teilnehmer ums Leben gekommen waren. Inzwischen gelangte ein 32 Quadratmeter großer Rettungsfallschirm -- »Delta Stop« -- auf den Markt, der Flieger rettet, falls ihr Drachen ins Trudeln gerät. Nur hoch genug muß es passieren.
Dem Drachenpiloten Manfred Kranz hätte das auch nicht mehr geholfen. Als er auf eine Wiese bei Münstertal im Schwarzwald niederschwebte, feuerte ein erboster Bauer aus einer Leuchtpistole auf ihn. Reflexbewegungen des Bedrohten versetzten den Drachen in taumelnde Bewegung. Er landete in einem Baum und plumpste aus 15 Meter Höhe auf den Boden.