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»Ich hab' einen Bäng im Kopf«

aus DER SPIEGEL 10/1992

Der Radfahrer, Teilnehmer der Rheinland-Pfalz-Rundfahrt, zeigt seine mit Tape umwickelten Hände samt Blasen und dicken Schwielen, deutet auf Oberschenkel und kabeldicke Adern. »Frag mich nicht, warum ich die ganze Scheiße auf mich nehme. Da ist was in mir, das mich antreibt.«

Er erzählt von der Einsamkeit in den Rennen, den quälenden Gedanken, Leistungsclown zu spielen, der Angst vor Verletzungen, vor dem Versagen. Er erzählt von Knoten in den Waden, vom Pochen im Schädel, von tränenden Augen und dem verkrampften Rücken. Trotzdem tritt er in die Pedale, immer wieder, weil er muß. Gewinnen will er unbedingt, wie auch immer.

In seiner Black box, einem schwarzen Plastikbeutel mit vielen Medikamenten, steckt Kortison, ein ewig junger »Longseller«, und Erythropoietin, EPO, die zweite Lunge, ein Hormon, das in kurzer Zeit Milliarden von roten Blutkörperchen produziert. Liebevoll nimmt er ein braunes Fläschchen ohne Etikett heraus. »California Rocket«, schwärmt er, »die Berge fliegen dir entgegen. Schade, das es die anderen auch nehmen.«

Der Turner macht ebenfalls weiter, obwohl er fast mehr Zeit in den Wartezimmern von Ärzten verbringt als an den Geräten. »Ich hab'' einen Bäng im Kopf«, gesteht er, »gegen den ich nicht ankomme. Ein kleiner Außerirdischer, der mich programmiert.«

Viele haben ihn, diesen Bäng, diesen alles bestimmenden Motor im Kopf, das »Jekyll-Hyde-Syndrom«, wie es ein Boxer bezeichnete: »Meinst du, ich würde sonst meine Rübe hinhalten?« Mit wem ich auch bei der Recherche für meinen Roman sprach, alle schwärmten von der Kraft, die sie zieht und schiebt, gegen die sie machtlos sind*.

Mit Wut im Gesicht beschreibt eine Schwimmerin, mehrfache Deutsche Meisterin, ihren Ekel vor den schwiemeligen Offiziellen, die unbequeme Athletinnen gezielt bei der Nominierung übergehen, keine Empfehlung an die Sporthilfe aussprechen und mit dem Sponsor drohen, zu dem man einen heißen Draht habe: »Manchmal kannst du dich nur noch über das Bett eines Trainers oder Funktionärs in den Kader zurückdienen. Warum soll es uns auch anders gehen als Sekretärinnen?«

Alter, Unlust oder Einsicht vor dem rebellischen Körper sind keine Gründe für das Ende einer Sportkarriere. Viel schlimmer ist der permanente Druck, der auf die Athleten ausgeübt wird. Sie sehen nicht mehr ein, sich fortwährend zum unmündigen Hampelmann degradieren zu lassen, der zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmtes Ergebnis abzuliefern hat. Den Zehnkämpfer kotzt es an: »Alle saugen sie an mir und wollen Leistung, Leistung, Leistung.«

Das subtile Gegeneinanderausspielen gleich guter Athleten durch Verband und Sponsoren hat Methode. Hier eine Extrazuwendung für den einen, dort eine Vergünstigung für den anderen, aber sprich nicht darüber. Und es schafft Abhängige. Oft bewirkt schon eine scheinbar nebensächliche Bemerkung Existenzängste bei Sportlern und Sportlerinnen; immerhin geht es um ihren Beruf. »Und schon greifst du zu einem Beschleuniger«, so der Langstreckler, »um noch besser zu sein.« _(* Edwin Klein: »Bitterer Sieg«. Rasch ) _(und Röhring Verlag, Hamburg; 528 Seiten; ) _(39,80 Mark. )

Der Zuschauer zahlt, erkauft sich sein Recht. Und die Medien auch, wollen packende Bilder zeigen, lächelnde Sieger. Es ist die heile Welt des genormten Sports: Ich sage dir, was du bringen mußt, und du zeigst, egal auf welche Weise, wie gut du bist. Dann ist jeder stolz auf die siegreiche Nation: Wouh, ganz Deutschland ist ein Team.

Kaum einer interessiert sich dafür, wie die Resultate zustande kommen. Es sei denn, ein Star fällt auf, so wie Katrin Krabbe jetzt oder Ben Johnson 1988 in Seoul. Die heile Welt des Sports stürzte damals ein, alle taten so, als seien sie enttäuscht.

Kaum ein Aktiver ist auf die Idee gekommen, seine eigenen Medikamente, Pillen, Muntermacher zu kreieren. Andere taten das bereitwillig für ihn, um die Vorgaben von Verbänden und Sponsoren zu erfüllen. Oft unter dem Deckmäntelchen der Wissenschaft, wenn man bei Schwimmern den Darm mit Luft aufpumpte, wegen der besseren Wasserlage, oder noch schnell dem Ruderer einen Spritzencocktail verpaßte und Leistung im Überfluß versprach.

Ein ehemaliger Sportler zog in Kalifornien einen Dopinghandel auf, beherzigte den Rat seines vermeintlichen Freundes und wandte sich an eine Organisation, die säumige Zahler an ihre Verpflichtungen erinnern sollte.

Er wurde verpfiffen, zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt und bereits nach einem entlassen. Mit den Behörden hatte er sich arrangiert, nichts über die offizielle Einfuhr der Rohsubstanzen - von Newcastle/England mit British Airways nach San Diego, dort offiziell deklariert und vom amerikanischen Zoll abgefertigt - verlauten zu lassen. Und heute? Der Handel ist größer geworden, weil eine mafiaähnliche Organisation die Profitspannen erkannt hat. Übrigens die gleiche Organisation, die den Athleten der Polizei auslieferte.

Doch es gibt genug Mittel, die kein Labor der Welt entdecken kann. Zum Beispiel HGH, ein Wachstumshormon mit hohem anabolem Effekt, das schnell zu körpereigenem wird, genau wie EPO, die »Atombombe« der Radfahrer. Dann Biocarn, nicht auf der Dopingliste zu finden, das normalerweise bei dialysebedingter Muskelschwäche verordnet wird. Oder Musashi, eine Kombination von Aminosäuren, die man beliebig mixen kann, der Fahrstuhl zum Rekord. Die grüne Packung vor dem Training, die blaue danach. Debancosit, Clenbuterol und mittlerweile auch Bakterien, die den Körper anregen, sein eigenes Doping auszuschütten.

Sind Dopingtests also eine Farce? Für die Großverdiener im Sport, die sich auch die teuren, nicht nachweisbaren Präparate leisten können, allemal. Der Abstand zu den Konkurrenten wird größer, die Chancenungleichheit auch. »Bringst du nichts, bist du weg vom Fenster. Erwischen sie dich, auch. Was denkst du, zu was ich gezwungen bin, um die Anforderungen zu erfüllen?« fragt ein französischer Stabhochspringer.

»Was denkst du, wie oft ich schon für andere gepinkelt habe.« Der Ex-Diskuswerfer grinst. Das waren noch Zeiten, als man nur nach Aufputschmitteln fahndete, Anabolika noch erlaubt und Werfer deshalb immer sauber waren. Und gepinkelt hat er für Stabhochspringer, 400-Meter-Hürdenläufer und Mittelstreckler in Rovereto, Italien. Und heute? Mir sind insgesamt 19 Fälle bekannt, zumindest in Frankreich und Spanien geht es problemlos.

Betrug? Ja, vielleicht, aber auch Selbstschutz. Noch eleganter ist es natürlich, wenn hohe Funktionäre unverfängliche Urinproben bereitstellen. Dann entfällt sogar das Hosenrunterlassen. In England, Italien und sonstwo.

Absurd die Anschauungen einiger Athleten - noch nicht mal erste Garnitur -, die Pillen als Trainingsersatz ansehen. Vielleicht am schlimmsten die Senioren über 40, wie bei ihren Leichtathletik-Meisterschaften in Trier 1991. Den Stoff rausgepult aus der Folie, rein in den Mund, ohne Scheu. Nadel in die Pobacke und abgedrückt, es gibt ja keine Tests.

Absurd die Medikamentenkombinationen, die man zusammenstellt mit dem Versprechen: Junge, das bringt dir was. Nicht nur unmündige Sportler greifen zu. Nicht nur die in der DDR taten es. Was ich in Weimar im Hotel Elephant zu hören bekommen habe von einem Mediziner, der jetzt in Frankreich lebt - kurios, wie aufnahmefähig unsere europäischen Nachbarn sind, wenn es um Trainer und Ärzte der ehemaligen DDR geht -, wollte ich nicht glauben: An Insassen von Strafanstalten hat man vieles ausprobiert, mit Hilfe des Erfassungssystems Dora.

Absurd die Geräte, die man entwickelt, um im Training Reize zu setzen, die den Erfolg geradezu herbeizwingen. Goliath, ein computergesteuertes Marterinstrument, schleudert in Peking Sportler durch die Luft und läßt deren Muskulatur, durch elektrische Impulse gereizt, exakt im richtigen Augenblick bis zum Bersten anschwellen.

Pedro steht in Kuba, hat eine enorme Reichweite, phantastische Schlagkraft und wiegt acht Zentner. Zwölf Fäuste kann er, über Druckluft angetrieben, abschießen, sogar alle auf einmal, wenn es sein muß. Und Pedro gegenüber steht ein Häuflein Mensch, das vorgibt, ein Boxer zu sein, und versucht, den Rammstößen auszuweichen, sie abzuwehren, zu umgehen. Aber Pedro kennt kein Erbarmen.

In der DDR existierte für die Ringer als Gegner ein gepolstertes, durch Elektromotoren gesteuertes Gestell, das jedem seinen Willen aufzwang. Es galt nur, möglichst viel Widerstand entgegenzubringen, gewinnen konnte man nie. Radfahrer strampeln in Frankreich stundenlang in Unterdrucckammern, durch eine Tastatur wird der steilste Berg samt Sauerstoffschuld in den Trainingsraum gelockt.

Und vor Jahren schon gab es frei im Handel erhältlich Slendertone, ein Stromstöße austeilendes Gerät für den Hausgebrauch, das Muskeln reizte und Muskelberge versprach - wenn man nur entsprechend hoch dosierte.

Warum wehren sich Sportler nicht? Ja, warum machen Sportler alles mit. Bäng im Kopf. Das ist ihr natürliches Doping. o *VITA-KASTEN-1 *ÜBERSCHRIFT:

Edwin Klein *

startete vor zwei Jahren seine dritte Karriere: Der Oberstudienrat schreibt jetzt Romane. In den siebziger Jahren zählte Klein zu den besten deutschen Hammerwerfern (74,72 Meter), wurde bei Olympia in München und Montreal Siebter und Achter. Er kennt den Druck, unter den sich die Athleten setzen. Zur Vorbereitung auf Montreal hatte der zweimalige Deutsche Meister per Inserat in der Frankfurter Allgemeinen einen Mäzen gesucht und als Gegenleistung angeboten: »Qualifikation wahrscheinlich, Medaille möglich«. Die Doping-Enthüllungen - vor allem die des SPIEGEL - der letzten Monate ergänzte Klein, 43, mit eigenen Recherchen und arbeitete die Machenschaften des internationalen Sports in einem jetzt erschienenen Roman auf: »Bitterer Sieg«. In vielen Gesprächen hat Klein einen »Sumpf von Korruption und Gewalt« ausgemacht, über den die Athleten erst sprechen wollten, nachdem ihnen Anonymität zugesichert worden war. Kleins »Bitterer Sieg« geriet zu einer exakten Milieuschilderung und einem Plädoyer für die Opfer des Sports - die willfährigen Sportler.

* Edwin Klein: »Bitterer Sieg«. Rasch und Röhring Verlag, Hamburg;528 Seiten; 39,80 Mark.

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