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Artikel 76 / 102

»Ich mache meine eigene Medizin«

aus DER SPIEGEL 14/1991

SPIEGEL: Herr Müller-Wohlfahrt, in den deutschen Medien werden Sie als eine Art Wunderheiler gefeiert. Sind Sie einer?

MÜLLER-WOHLFAHRT: Natürlich nicht! Ich habe erst kürzlich wieder einer deutschen Illustrierten geschrieben und gebeten, sie möge nicht mehr über mich schreiben. Die Antwort lautete: Es könne auf einzelne Personen nicht Rücksicht genommen werden. Und auch der Deutsche Presserat hat mir mitgeteilt, mit der veröffentlichten Meinung müsse ich wohl oder übel leben.

SPIEGEL: Zu Ihnen kommt der Tennisprofi Boris Becker ebenso wie die Eiskunstläuferin Kati Witt, der irische Radprofi Stephen Roche ebenso wie der Fußballprofi Lothar Matthäus aus Italien - warum wehren Sie sich denn gegen die Bezeichnung »Prominentendoktor«?

MÜLLER-WOHLFAHRT: Ich bin Arzt und möchte meinen Patienten helfen, gleichgültig, ob sie prominent sind oder nicht.

SPIEGEL: Hochleistungssportler lassen ihr Kapital, den Körper, dort kurieren, wo es am schnellsten geht . . .

MÜLLER-WOHLFAHRT: Die Leute sollen endlich einmal aufhören zu glauben, hier in München geschähen Wunder. Was stimmt, ist dies: Wir haben hier Voraussetzungen geschaffen, die es ermöglichen, schon einen Tag nach der Verletzung mit einem besonderen Training zu beginnen.

SPIEGEL: Wie sehen diese Voraussetzungen aus?

MÜLLER-WOHLFAHRT: Zunächst einmal ist die Diagnose entscheidend. Bei Muskelverletzungen etwa wurde lange alles unter dem Begriff »Zerrung« abgehandelt. Die Behandlungsmethoden differierten nur unwesentlich, egal ob es nun wirklich nur eine Zerrung war - nach unserer Auffassung eine Muskelfunktionsstörung - oder ob der Muskel im Sinne eines Gewebeschadens tatsächlich verletzt wurde. Für den Therapeuten ist es wichtig zu wissen, ob es sich um eine Zerrung, einen Faserriß, einen Bündelriß oder einen Muskelriß handelt. Ich glaube, daß beinahe die Hälfte aller Muskelverletzungen falsch diagnostiziert wird. _(Das Gespräch führten die ) _(SPIEGEL-Redakteure Hans Halter und ) _(Heiner Schimmöller. )

SPIEGEL: Was macht diese Unterscheidung so schwer?

MÜLLER-WOHLFAHRT: Ist die Verletzung noch frisch, haben die Umfeldreaktionen - etwa eine Verhärtung oder eine Schwellung - noch nicht eingesetzt. Dann kommt es darauf an, die Konturunterbrechung mit den Fingern zu ertasten, zu spüren, ob nur Muskelfasern oder sogar ein ganzes Muskelfaserbündel geschädigt ist.

SPIEGEL: Diese Fähigkeit scheinen in Deutschland nicht viele Sportärzte zu haben. Der Freiburger Professor Klümper will von den 8000 Sportmedizinern allenfalls zwei Dutzend als Könner gelten lassen. Und wenn man sieht, wo sich die prominenten Sportler tatsächlich drängen, sind es noch weniger.

MÜLLER-WOHLFAHRT: Wichtig ist der Mut des Arztes, den Patienten auch tatsächlich anzufassen - den haben doch nur die wenigsten. Ich habe das Glück, während des Studiums eine Massageausbildung absolviert zu haben. Dort lernte ich, einen Muskel anzufassen und seinen Zustand zu beurteilen. Zudem hat Hans Montag, der viele meiner Patienten als Physiotherapeut betreut, auch dieses Gespür, und wir beide ergänzen uns so gut, daß wir inzwischen überzeugt sind, mit dem Gefühl in unseren Händen der Technik überlegen zu sein. In etlichen Fällen, in denen die Ultraschalluntersuchung einen Normalbefund ergab, haben wir eine Schädigung ertastet.

SPIEGEL: Die Patienten müssen Ihnen glauben, bewiesen wird nichts?

MÜLLER-WOHLFAHRT: Nein, noch nicht. Selbst die Kernspintomographie ist noch nicht so weit, Faserrisse bildlich darzustellen. In einem Labor, mit dem wir zusammenarbeiten, wurde aber jetzt festgestellt, daß bei einer Schädigung im Bindegewebe Silizium freigesetzt wird - so sind wir jetzt in der Lage, uns zu überprüfen.

SPIEGEL: Hände, die jedes kleine Wehwehchen ertasten - das galt bisher als Markenzeichen Klümpers. Sie haben den umstrittenen Sportmediziner als ihren Mentor bezeichnet. Was haben Sie denn von ihm gelernt?

MÜLLER-WOHLFAHRT: Vor allem, daß man viel Zeit für den Patienten aufwenden muß. Ein Athlet, der große Probleme hat, der um seine Zukunft bangt, der braucht Zeit. Ich habe gelernt, daß man sich in den Patienten hineinfühlen kann, wenn man ihn sprechen läßt. Hochleistungssportler wissen meist sehr genau, was mit ihnen im Moment der Verletzung passiert ist, da bringt allein schon das Zuhören in der Diagnose weiter. Dazu ist aber erforderlich, daß der Patient seine innere Anspannung verliert. Was glauben Sie, wie ängstlich manche hier sitzen.

SPIEGEL: Sind Spitzensportler im Schnitt ängstlicher als normale Patienten?

MÜLLER-WOHLFAHRT: Generell ist das nicht zu beantworten. Mir sind diejenigen, die überhaupt nicht ängstlich sind, fast suspekt. Ich halte es für normal, wenn jemand Angst vor der Diagnose oder der Spritze hat.

SPIEGEL: Wer zu einem Arzt geht, der von Klümper gelernt hat, darf aber keine Angst vor einer Spritze haben . . .

MÜLLER-WOHLFAHRT: Ich bin keine Kopie des Professors Klümper, ich habe meine eigene Entwicklung und Erfahrung gemacht. Ich behaupte, daß ich meine eigene Medizin mache. Ich bin wie ich bin, und ich bin bemüht um ehrliche Medizin.

SPIEGEL: Die Athleten dürfen sicher sein, daß nicht in einer Ihrer Spritzen auch Cortison ist?

MÜLLER-WOHLFAHRT: Es kann sein, daß es das anderswo gibt, daß die Schwester draußen die Spritze aufzieht, der Patient sich hinlegt und die Spritze dann reingebracht und sofort verabreicht wird. Bei mir wird dies alles vor den Augen des Patienten gemacht.

SPIEGEL: Die Schulmedizin rückt Sie angesichts der Tatsache, daß Sie in der Therapie dann unter anderem Honig und Kälberblutextrakt und homöopathische Verdünnungen spritzen, erneut in Klümpers Nähe. Und für den medizinischen Laien sind Sie deshalb eine Art moderner Zauberer.

MÜLLER-WOHLFAHRT: Ich habe aus der Therapie nie ein Geheimnis gemacht: Ich appliziere zum Beispiel bei Muskelverletzungen zunächst in den verletzten Muskelstrang über vier oder fünf Nadeln ein Anästhetikum, Meaverin oder Ähnliches, wobei die mittlere genau in die Verletzung geht. Dann nehme ich eine Mischung zu gleichen Teilen aus Actovegin, Myo-Melcain und Segmentan und infiltriere sie über die gleichen Nadeln. Diese Mischung sorgt für eine Entspannung des Muskels und schafft ein günstiges Milieu für den Heilprozeß.

SPIEGEL: Das erste Medikament enthält als Wirkstoff Kälberblut, das zweite Bienenhonig. Diese Medikamente werden von Universitätsprofessoren für Arzneimittelkunde nicht als seriöse Medikamente angesehen.

MÜLLER-WOHLFAHRT: Die Medikamente sind seit Jahrzehnten auf dem Markt. Meine Erfahrungen damit sind ausschließlich gut.

SPIEGEL: Die Schulmedizin nennt dies Suggestiv-Therapie, nur der feste Glaube an den Doktor hilft.

MÜLLER-WOHLFAHRT: 40 bis 50 Prozent aller Therapieverfahren in der Medizin sind nicht hinterfragbar, haben deswegen aber keineswegs nur einen Placeboeffekt. Warum sollte ich meine Behandlungsmethoden ändern? Sie sind unbedenklich und erfolgreich.

SPIEGEL: Wie oft wird gespritzt?

MÜLLER-WOHLFAHRT: Am Verletzungstag so schnell wie möglich, dann nach einem Ruhetag erneut und schließlich nach einem weiteren Tag ein drittes Mal. Und dann übernimmt Hans Montag, der ja vom ersten Tag an mit dabei war, die weitere Behandlung, arbeitet mit den Sportlern bereits wieder hart nach einem ganz speziellen Trainingsprogramm.

SPIEGEL: Was treibt Sie zur Eile?

MÜLLER-WOHLFAHRT: Der Körper ist das Kapital der Athleten, sie haben natürlich ein Interesse daran, so schnell wie möglich wieder trainieren zu können. Zum anderen nimmt der Körper bei einer Verletzung eine Schonhaltung ein, um den betroffenen Muskel zu schonen. Dieses Bewegungsmuster schleift sich innerhalb einer Woche ein. Eine Eiskunstläuferin, die für einen Dreifachsprung viele koordinative Elemente benötigt, braucht beinahe zwei Monate, um nach ihrer Genesung die Schutzhaltung wieder zu verlieren.

SPIEGEL: Ihre Kollegen äußern unterderhand Zweifel, zuletzt, als Boris Becker zehn Tage nach einem Muskelriß wieder ein Turnier bestritt. Entweder sei die Diagnose oder aber die Therapie falsch gewesen.

MÜLLER-WOHLFAHRT: Beides war richtig, und die Kürze der Heilung ergibt sich aus dem Konsens zwischen der Arbeit von Herrn Montag und mir. Da werden dreimal am Tag Meinungen ausgetauscht. So können wir auf die kleinste Veränderung reagieren.

SPIEGEL: Kommen Sie nicht irgendwann in ein ethisches Dilemma? Denn Sie reparieren doch einen Mann für eine Tätigkeit, von der Sie wissen, daß sie ihn über kurz oder lang wieder schädigt.

MÜLLER-WOHLFAHRT: Es ist die Entscheidung des einzelnen, Leistungssportler zu werden, was sicher nicht immer gesundheitsfördernd ist. Ich bin derjenige, der hilft, daß es glimpflich ausgeht.

SPIEGEL: Helfen Sie, indem Sie die Patienten so schnell kurieren, nicht nur, daß sich die Verletzungen häufiger wiederholen können?

MÜLLER-WOHLFAHRT: Schnelles Handeln ist in der Medizin oft besser als abzuwarten. Ich mache eine vertretbare Medizin, die Rücksicht nimmt auf Nebenwirkungen und Schäden, die unter Umständen ja auch durch die Therapie gesetzt werden können.

SPIEGEL: Irritiert Sie nicht die Tendenz des Hochleistungssports, in dem immer mehr junge Leute schon vor der Zeit verschlissen werden?

MÜLLER-WOHLFAHRT: Der Hochleistungssport ist ein Phänomen, mit dem wir leben. Und mit dem die Athleten zunehmend besser leben können. Die Fußballer der sechziger Jahre sind oft so geschädigt, daß sie nicht einmal mehr Freizeitsport betreiben können. Wer heute beim FC Bayern München seine Karriere beendet, ist wesentlich besser dran.

SPIEGEL: Wir haben eher den Eindruck, daß die Verletzungsanfälligkeit der Sportler ganz rapide zugenommen hat.

MÜLLER-WOHLFAHRT: Ganz rapide möchte ich nicht sagen. Wir sind heute in der Lage, Verletzungen frühzeitig zu erkennen, und die Athleten selbst kommen inzwischen auch mit den kleinsten Blessuren zum Doktor. Das war früher nicht der Fall, da gab es eine ganz hohe Dunkelziffer.

SPIEGEL: Welche Chancen haben Sie denn, auf die Belastungen der Profis einzuwirken?

MÜLLER-WOHLFAHRT: Zwischen dem Bayern-Trainer und mir erfolgt beinahe täglich eine Absprache. Da geht es um den Gesundheitszustand der Spieler ebenso wie um Trainingsinhalte und -intensität.

SPIEGEL: Nicht selten treiben Eltern, die auf eine Karriere ihrer Kinder hoffen, die Sprößlinge in krankmachende Belastungen. Gegen solchen Ehrgeiz sind Sie doch machtlos.

MÜLLER-WOHLFAHRT: Erst heute abend habe ich noch einem Athleten geraten, seinen Beruf aus gesundheitlichen Gründen sofort aufzugeben - er wird den Rat befolgen.

SPIEGEL: Den Namen mögen Sie nicht verraten?

MÜLLER-WOHLFAHRT: Nein.

SPIEGEL: Nehmen wir doch einmal Ihren Patienten Boris Becker. Nach anfänglich zwei Verletzungen pro Jahr sind es jetzt vier oder fünf. Ist das natürlicher Verschleiß? Oder nutzt er sein von Ihnen repariertes Kapital, seinen Körper, zu intensiv?

MÜLLER-WOHLFAHRT: Es ist sicherlich ein genetisches Problem. Wenn einer 85 Kilogramm wiegt, hat er eine andere Ausgangsbasis als einer mit 68 Kilogramm. Da ist die Kilopondbelastung erheblich höher.

SPIEGEL: Das kann doch nicht allein ausschlaggebend sein?

MÜLLER-WOHLFAHRT: Es ist aber der wesentlichste Faktor. Aber ich muß auch sagen, daß wir bezüglich der Regeneration in Grenzbereiche kommen - dann nämlich, wenn der Körper aufgrund der Belastungen trotz medizinischer Hilfen nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu helfen, wo er einfach nach Schonung verlangt.

SPIEGEL: Dann muß also der Spieler entscheiden, bei der Turnierhatz einfach nicht mehr mitzumachen?

MÜLLER-WOHLFAHRT: Meistens hat er die Chance dazu nicht, weil er nicht frei in seiner Entscheidung ist.

SPIEGEL: Becker müßte beispielsweise darauf verzichten, unter allen Umständen wieder Platz eins auf der Rangliste erobern zu wollen.

MÜLLER-WOHLFAHRT: Er ist die Nummer eins, das weiß er. So fühlt er sich heute, und daraus wird er Lehren und Konsequenzen ziehen. Aber man braucht ja immer so lange, bis man wirklich dahintersteigt. Er hat gelitten, und er hat es begriffen. Man muß es leider an sich selbst erleben.

SPIEGEL: Herr Müller-Wohlfahrt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. *VITA-KASTEN-1 *ÜBERSCHRIFT:

Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt *

wird von vielen internationalen Sportstars konsultiert. Der 48jährige Facharzt für Orthopädie und Sportmedizin, der seit 1977 die Fußballprofis von Bayern München behandelt, versteht sich als Vorreiter einer »neuen Generation Sportmediziner«, die die »eingefahrenen Wege« der Schulmedizin verlassen hat.

Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure Hans Halter und HeinerSchimmöller.

H. Halter, H. Schimmöller

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