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»Ich muß sagen können, was ich denke«

SPIEGEL-Interview mit dem Profi Ruud Gullit über Starkult und Abhängigkeiten im Berufsfußball *
aus DER SPIEGEL 42/1988

SPIEGEL: Herr Gullit, was verbindet Sie mit Nelson Mandela?

GULLIT: Als ich im vergangenen Dezember zum Fußballer des Jahres in Europa gewählt wurde, habe ich diesen Titel Nelson Mandela gewidmet, um auf das menschenverachtende System in Südafrika aufmerksam zu machen. Mandela ist dort seit 26 Jahren gefangen - so viele Jahre, wie ich alt bin. Die Regierung hat vergebens versucht, ihn kleinzukriegen. Für mich ist es etwas Unglaubliches, wenn jemand für die Ziele, für die er eintritt, einen Großteil seines Lebens opfert.

SPIEGEL: Seit wann ist der Name Mandela ein Begriff für Sie?

GULLIT: Ich habe vor Jahren schon in Zeitungen und Illustrierten viel über Mandela und die Apartheid gelesen.

SPIEGEL: Ihre Aktivitäten sind vielfältig. Im August haben Sie bei einem Kongreß in Oslo auf Einladung der Unicef eine Rede über Rassendiskriminierung gehalten, in Holland sind Sie Mitglied der Anne-Frank-Stiftung, die sich für ethnologische Minderheiten einsetzt. Arbeiten Sie so Ihre eigene Geschichte auf?

GULLIT: Nein, überhaupt nicht. Holland ist ein liberales, tolerantes Land. Ich hatte nie Probleme wegen meiner Hautfarbe.

SPIEGEL: Darüber gibt es auch andere Berichte. Als Sie 15 Jahre alt waren, zum Beispiel, gerieten Sie auf dem Heimweg von der Schule in eine Prügelei. Ein Polizist griff ein, sah Ihre Schultasche und sagte: »Können Neger jetzt auch schon lesen?« Vergessen?

GULLIT: Das nicht, ich erinnere mich noch genau daran und es hat mich damals sehr getroffen. Aber ich bin ja gerächt worden. Meine Mutter, der ich von der Sache erzählte, ist sofort auf die Wache gestürmt und hat die Beamten beschimpft. Die haben sich sehr gewundert, sie ist ja eine Weiße.

SPIEGEL: In England ...

GULLIT: ... ist Rassendiskriminierung sehr verbreitet, ich habe das oft festgestellt. Das hat, so meine ich, viel mit den ureigenen Problemen des Landes zu tun, dem krassen Gegensatz zwischen arm und reich.

SPIEGEL: Bei den Spielen der englischen Profiligen ist es jedenfalls keine Seltenheit, daß die farbigen Spieler der Gastmannschaft mit Bananen beworfen werden. Das passiert selbst einem Star wie John Barnes vom FC Liverpool.

GULLIT: Ich weiß. Deshalb halte ich es ja auch für wichtig, daß viel über die Diskriminierung geredet und geschrieben wird - auch wenn ich selbst so etwas noch nicht erlebt habe.

SPIEGEL: In Deutschland scheuen sich Fußball-Profis im allgemeinen, sich politisch oder gesellschaftskritisch zu artikulieren. Sind in Italien die Freiräume größer?

GULLIT: Auch hier haben die Profis Angst, sich zu äußern. Die Präsidenten der Klubs sehen das nicht gern. Außerdem ist es für Fußballer überall schwer, etwas Kritisches zu sagen, da die Presse dann gleich aufheult. Ich erinnere mich sehr gut, wie in Deutschland Paul Breitner zum Kommunisten gemacht wurde.

SPIEGEL: Breitner war ein Querdenker, und das fiel in der Masse der angepaßten Profis halt besonders auf, aber ein Kommunist war er nun wirklich nicht.

GULLIT: Ich weiß, doch die Journalisten haben ihn zum Revoluzzer gemacht, und dieses Image ist er nie mehr losgeworden.

SPIEGEL: Bevor Sie in Mailand Ihre erste Pressekonferenz gaben, hat die Klubführung den Journalisten erklärt, Sie seien es gewohnt, zu sagen, was Sie denken, unabhängig von der Linie des Vereins.

GULLIT: Ich bin auch als Fußball-Profi ein Mensch und muß sagen können, was ich denke.

SPIEGEL: Wir wollen Ihre Ernsthaftigkeit nicht unbedingt anzweifeln, aber ganz offensichtlich sind Sie mit Ihrer Art der Selbstdarstellung in eine Marktlücke gestoßen. Der Profifußball ist ja mit kritischen Geistern auf der ganzen Welt nicht gerade überversorgt, Sie fallen also, nicht nur äußerlich, besonders auf.

GULLIT: Ich habe niemandem erklärt, daß meine Haare wichtiger Bestandteil meiner Karriere sein sollen, auch nicht meine Meinungsäußerungen. Ich habe wie von selbst dieses Image bekommen - und jetzt muß ich damit leben, so locker es eben geht.

SPIEGEL: Es heißt, diese Lockerheit hätten Sie sich antrainiert.

GULLIT: Antrainiert ist nicht das richtige Wort. In meinem Beruf gibt es viel Streß. Da muß man lernen, damit zu leben.

SPIEGEL: Wer hat Ihnen dabei geholfen?

GULLIT: Ich habe in einer Therapie gelernt, Gefühle zuzulassen, mich nicht zu vergraben, sondern offen und entspannt auf Menschen zuzugehen. Die meisten haben Angst vor Kontakten, vor Nähe, denken Sie nur an die irren Szenen, die sich in Fahrstühlen abspielen. Die Leute starren an die Decke und bekommen feuchte Hände, wenn man sie ganz direkt anschaut. Die meisten Menschen denken negativ, ich bin in der Lage, positiv zu denken.

SPIEGEL: Wie übertragen Sie das auf Ihren Beruf?

GULLIT: Wenn ich in einem Stadion den Rasen betrete, dann absorbiere ich die Stimmung auf den Rängen. Fußballer, die das nicht können, leben während des ganzen Spiels wie unter einer Käseglocke. Sie sind ganz leicht an ihren hängenden köpfen und den eingezogenen Schultern auszumachen.

SPIEGEL: Sie leben hauptsächlich vom Gefühl?

GULLIT: Ich lebe nur vom Gefühl, das gibt mir Sicherheit. Jeden Tag treffe ich doch auf Menschen, die etwas von mir wollen. Sie wollen mein Geld, meine Persönlichkeit, sie wollen alles aus meinem Privatleben wissen. Meine positive Grundeinstellung versetzt mich in die Lage, damit umzugehen, den um mich entstandenen Rummel zu verkraften.

SPIEGEL: Nun meint allerdings Ihr Trainer beim AC Mailand, Arrigo Sacchi: »Wenn Gullit erst einmal mit dem Kopf spielt, wird er ein noch größerer Fußballer.«

GULLIT: Wenn ich zuviel mit dem Kopf spiele, komme ich zu spät. Ich habe keine Zeit, zu denken.

SPIEGEL: »Gullit müßte ein bißchen mehr denken und weniger laufen«, sagt auch Cesar Luis Menotti, Trainer des argentinischen Weltmeister-Teams von 1978.

GULLIT: Menottis Meinung ist nicht wichtig für mich, auch wenn ich ihn durchaus schätze. Ich bin 26 Jahre, was wollen die an mir ändern? Mit 30 ist sowieso Schluß. Man muß mit meinen Qualitäten zufrieden sein, warum will man noch dies und das dazu? Kritisieren ist doch ganz einfach. Ich Könnte mich auch hinstellen und sagen, daß Beckenbauer mit dem linken Fuß nicht so geniale Pässe geschlagen hat wie mit dem rechten.

SPIEGEL: Sie beherrschen Ihre Rolle im internationalen Fußball bestens. Für die Photographen gibt es kein schöneres Motiv, Sie sind eloquent, geben sich umgänglich, Sie wissen, was Journalisten hören wollen ...

GULLIT: ... oh ja, das Spiel mit Journalisten kenne ich sehr gut. Ich weiß immer schon zu Beginn eines Interviews, worauf die hinauswollen, darauf stelle ich mich ein.

SPIEGEL: Das hatten wir ohnehin vermutet. Wie oft haben Sie das Spiel verloren, sind Sie von Journalisten aufs Kreuz gelegt worden?

GULLIT: Nicht sehr oft. Seit ich in Mailand bin, vielleicht dreimal. Ganz generell gilt für mich: Wenn man so aussieht wie ich, findet man mehr Aufmerksamkeit als andere. Aber wehe, ich spiele schlecht. Dann habe ich es schwerer als einer mit einem normalen Kopf.

SPIEGEL: Bisher hatten Sie keinen Grund, sich zu beklagen. Sie sind in Italien ein Massenidol, nur Diego Maradona kann es mit Ihrer Popularität aufnehmen.

GULLIT: Das weiß ich, und ich bin stolz darauf. Es bereitet mir eine Riesenfreude zu sehen, wie enthusiastisch die Menschen reagieren.

SPIEGEL: Auch, wenn die Tifosi Sie anbeten: »Ruud, du bist unser Gott«?

GULLIT: Das ist die andere Seite des Starkults hier, die ich nur schwer verstehen kann. In meiner Philosophie gibt es keinen Gott, sind Menschen nicht schon deshalb etwas Besonderes, weil sie von anderen angehimmelt werden. Für mich ist das eine andere Welt, für die Italiener ist dieses Verhalten offenbar normal.

SPIEGEL: Wie bedeutend Fußballer angeblich sind, wird ihnen ja auch Tag für Tag suggeriert. Von Journalisten, die sich, im Gegensatz zu den wenigstens _(Beim Europameisterschafts-Finale Holland ) _(gegen die UdSSR am 25. Juni in München. )

partiell kritischen Sportschreibern in Holland oder Deutschland, vornehmlich als Berufsjubler begreifen.

GULLIT: Ich glaube, daß die Fans hier von sich aus mit dem Herzen dabei sind. Das hat etwas mit dem Naturell der Italiener zu tun, mit ihrer kindlichen Freude am Spiel.

SPIEGEL: In den TV-Sendern und Blättern, über die Ihr Chef, Mailands Präsident Berlusconi, gebietet, werden Sie als Italiens neues Sex-Symbol vermarktet. Kein strategisch geplanter Starkult?

GULLIT: Davon weiß ich nichts.

SPIEGEL: Aber die vielen Fans, die mit Mützen ins Stadion pilgern, an die sie nachgemachte Rasta-Locken geklebt haben, können Sie ja wohl kaum übersehen haben.

GULLIT: Wenn ich die sehe, verspüre ich durchaus ein gutes Gefühl. Ich muß aber gleichzeitig über sie lachen.

SPIEGEL: Warum?

GULLIT: Für mich ist das ein Spaß, aber im positiven Sinne.

SPIEGEL: Was könnte Berlusconi dazu bewogen haben, für Sie 15 Millionen Mark Ablöse und Ihnen ein Jahresgehalt von, wie es heißt, drei Millionen Mark zu zahlen?

GULLIT: Er hatte sich in den Kopf gesetzt, mit dem Klub wieder ähnlich attraktiven Fußball wie vor beinahe 20 Jahren zu bieten, als in der Mannschaft Stars standen wie Rivera oder Schnellinger und Milan gegen Ajax Amsterdam den Europapokal der Landesmeister gewann. Natürlich hat Berlusconi auch ein persönliches Interesse an der Publicity. Es ist ja schließlich auch sein Job, seine Firmen positiv ins Gespräch zu bringen.

SPIEGEL: Sie helfen ihm dabei, indem Sie etwa erklären, Sie spielen vor allem deshalb so gut, damit die Milan-Fans an ihrem Arbeitsplatz stolz sein können.

GULLIT: Ich liebe Fußball, das ist das erste. Wenn die Fans stolz auf mich sind, auf die Art und Weise, wie ich spiele, wie ich bin - dann macht das auch mich stolz.

SPIEGEL: Kritiker am circensischen Unternehmen Profi-Fußball in Italien meinen, er diene vor allem dazu, die Menschen von ihren sozialen Problemen abzulenken.

GULLIT: In Neapel haben die Leute kein Geld, aber sie sind doch jede Woche im Stadion. Für sie ist Fußball das einzige, das sie haben. In Mailand sind die Verhältnisse anders, das soziale Elend ist mit dem in Neapel nicht zu vergleichen. Mailand ist eine Stadt wie Hamburg, München oder Amsterdam.

SPIEGEL: Menotti erinnert Fußball in Italien, wie er sagt, an schlechte Hollywoodfilme: große Namen, eine riesige PR, aber stets das gleiche Drehbuch mit dem gleichen langweiligen Inhalt.

GULLIT: Das trifft für Mailand sicher nicht zu. Der Catenaccio, das Defensivspiel, war lange auch hier das Wichtigste. Als wir den neuen Angriffsstil kreierten, das Pressing einführten, haben sich die Leute gewundert und vom Fußball aus dem Jahr 2000 gesprochen. Wir sind damit Meister geworden, und das, so glaube ich, hat eine Trendwende eingeleitet. Auch andere Klubs spielen jetzt risikoreicher.

SPIEGEL: Für Sie war die Meisterschaft der persönliche Triumph über Neapels Star Diego Maradona, oder?

GULLIT: Maradona ist für mich der beste Spieler der Welt. Er ist ein besserer Individualist als ich, technisch perfekt, kann mit dem Ball alles.

SPIEGEL: Halten Sie sich für den wertvolleren Mannschaftsspieler?

GULLIT: Ich bin ein Mannschaftsspieler. Ob der bessere oder nicht, ist für mich unwichtig. Wichtig ist, daß ich meine Arbeit zuerst für die Mannschaft leiste.

SPIEGEL: Bei der Europameisterschaft haben Beobachter vermutet, daß Ihr damaliger Trainer Rinus Michels Sie mit sanfter Gewalt zu dieser Erkenntnis gedrängt habe.

GULLIT: Michels und mich verbindet ein Band, das man nicht erklären kann. Obwohl er aus einer anderen Generation ist, sehen wir die Dinge gleich - im Spiel und im Leben. Zwischen uns gibt es so etwas wie Freundschaft, und wir haben unsere emotionale Beziehung auch auf den Beruf übertragen. Da sind die Übereinstimmungen gewachsen.

SPIEGEL: Welche?

GULLIT: Etwa die, daß sich der Fußball verändert hat. Lange zählte zuerst der große Individualist, die anderen Spieler mußten alles tun, um ihn zur Geltung zu bringen. Die Argentinier rackerten für Maradona, die Franzosen für Platini, die Holländer für Cruyff.

SPIEGEL: Wie definieren Sie Ihre Rolle als Star der Mannschaft?

GULLIT: Star zu sein bedeutet allenfalls, daß mich die Leute erkennen. Aber zu Hause, bei meinen Freunden, bedeutet es ebensowenig wie im Spiel, bei den Kollegen. Es kommt allein darauf an, als Mannschaft eine wirkliche Einheit zu bilden.

SPIEGEL: Mit Michels haben Sie ein kongeniales Gespann gebildet. Wenn am Mittwoch Holland in München zum Weltmeisterschafts-Qualifikationsspiel gegen Deutschland antritt, sitzt ein anderer Mann auf der Trainerbank, Thijs Libregts.

GULLIT: Das hat nichts zu bedeuten. Da ist zwar ein anderer Mann, aber unser Spiel bleibt gleich. Er hat nichts zu entscheiden. Wir hören ihm zu, wenn er uns vor einem Spiel etwas erzählt, aber sonst lebt er im Trainingslager sein Leben, und wir Spieler leben unseres.

SPIEGEL: Libregts hat einmal über Sie gesagt: »Ich hoffe, daß seine Mentalität gut bleibt. Sie wissen ja, die schwarze Rasse ...« Fühlten Sie sich dadurch diskriminiert?

GULLIT: Ja, und ich habe mit ihm darüber gesprochen.

SPIEGEL: Sie waren lange verletzt, haben gerade erst wieder mit der Mailänder Mannschaft trainiert. In Bestform können Sie schwerlich sein, wollen Sie trotzdem gegen die Deutschen spielen?

GULLIT: Ich will, und ich denke auch, daß es geht.

SPIEGEL: Die unvermeidbare Frage zur Haarpracht: Wie viele Stunden brauchen Sie am Tag für die Pflege?

GULLIT: Nicht eine Minute. Die Zöpfe sind vor fünf Jahren mühsam reingedreht worden, jetzt halten sie für immer. _(Gullit mit Trainer Michels beim Empfang ) _(nach dem EM-Sieg am 27. Juni in Den ) _(Haag. ) *KASTEN

Ruud Gullit *

ist die Symbolfigur eines neuen, kreativen, von Spielfreude bestimmten Fußballstils in Europa. Den AC Mailand führte der Farbige mit der auffallenden Rastafrisur - die Mutter ist Holländerin, der Vater stammt aus Surinam, dem früheren Niederländisch Guayana - zur italienischen Meisterschaft, mit Hollands Nationalelf wurde er im Juni Europameister. Der deutsche Teamchef Franz Beckenbauer sieht in Gullit den »perfektesten Fußballer der Welt«, Mailands Präsident Silvio Berlusconi versicherte die Beine seines Stars mit 15 Millionen Mark. Italien-Profi Gullit, 26, lebt mit Ehefrau Yvonne und den kleinen Töchtern Felicity und Sharmayne in einer Mietwohnung am Stadtrand von Mailand. Er ist Kapitän der holländischen Nationalelf, die am Mittwoch in München im Weltmeisterschafts-Qualifikationsspiel gegen Deutschland antritt.

Beim Europameisterschafts-Finale Holland gegen die UdSSR am 25. Juniin München.Gullit mit Trainer Michels beim Empfang nach dem EM-Sieg am 27. Juniin Den Haag.

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