»Ihr könnt uns kreuzweise«
Rückenschwimmer Roland Matthes, 39, gewann bei Olympischen Spielen vier Goldmedaillen für die DDR. Als nach der Wende 1989 die einst gehätschelten Spitzensportler in die Kritik gerieten, floh der Stationsarzt der Medizinischen Akademie Erfurt »aus Angst um die heile Haut« in den Westen. Matthes arbeitet heute als Sportarzt am Olympiastützpunkt Tauberbischofsheim.
SPIEGEL: Herr Matthes, die Vereinigung der beiden deutschen Schwimmverbände hat zu Streit geführt. Olympiasieger Michael Groß spricht von »traurigen Vorgängen«, Sie empfinden »tiefe Scham« - warum?
MATTHES: Von westlicher Seite wird eine Kampagne gegen die ehemaligen DDR-Schwimmer geführt. Da wird beispielsweise vorgeschlagen, die DDR-Rekorde abzuerkennen oder zumindest in einer eigenen Liste zu führen . . .
SPIEGEL: . . . weil diese Rekorde durch Doping erreicht wurden.
MATTHES: Der Ruf der DDR-Schwimmer als schwimmende Apotheken ist doch absurd. Auch wenn es im SPIEGEL stand - man kann nicht davon ausgehen, daß immer und überall gedopt wird. Mit solchen Mitteln allein gewinnt niemand eine Goldmedaille, ohne Talent nützen auch Anabolika nichts. Und was die Westdeutschen angeht: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit so großen Steinen werfen.
SPIEGEL: Immerhin will Weltmeister Rainer Henkel mit »mehreren tausend Mark« aus eigener Tasche Trainingskontrollen finanzieren. Der westdeutsche Aktivensprecher Martin Herrmann empfindet gar »kalte Wut« bei dem Gedanken, jetzt im eigenen Land gegen Konkurrenten antreten zu müssen, die »bis vor kurzem noch gedopt haben«.
MATTHES: Das ist wie beim alternden Cassius Clay, der seine Gegner vor dem Kampf angebrüllt hat, um sich selbst Mut zu machen. Henkel hat Probleme mit seiner Leistung und will jetzt seinen direkten Konkurrenten Jörg Hoffmann in Mißkredit bringen. Wenn Henkel was weiß, warum schickt er nicht den Dopingfahnder Donike gezielt los?
SPIEGEL: Bei den ersten gesamtdeutschen Meisterschaften seit der Wende müssen die DDR-Schwimmer in dieser Woche also keinen Leistungsknick befürchten?
MATTHES: Jedenfalls nicht, weil sie plötzlich nicht mehr dopen. Aber sie haben einfach die Nase voll, weil das große Potential, das die DDR mitgebracht hat, verschwendet wird. Hier wird eine sporthistorische Chance vertan, weil die DDR-Schwimmer keine Lust haben, sich so behandeln zu lassen.
SPIEGEL: Der Schwimmwart des Deutschen Schwimm-Verbandes, Hans Hartogh, glaubt, daß die DDR-Schwimmer kuschen müssen, weil sie sich »freiwillig angeschlossen« haben.
MATTHES: Wer so etwas in der Öffentlichkeit sagt, ist doch auf seinem Posten eine Fehlbesetzung. Was hätte denn der westdeutsche Verband vorzuweisen, wenn er nicht einen Ausnahmekönner wie Michael Groß hätte? Nichts als große Sprüche. Und jetzt, wo die Chance besteht, von dem verrotteten Haufen der ehemaligen DDR doch noch ein bißchen zu lernen, da fehlt jegliche Kooperation. Jede Firma wäre mit einer solchen Politik schon längst bankrott.
SPIEGEL: Vielleicht haben die westdeutschen Funktionäre ganz einfach Angst vor einer Unterwanderung des Verbandes durch alte SED-Kader?
MATTHES: Da ist doch nichts politisch motiviert. Hier geht es nur um die Arroganz derjenigen, die glauben, sie säßen am längeren Hebel, weil sie über das nötige Geld verfügen. Das Niveau, auf dem die westdeutschen Funktionäre mit ihren ostdeutschen Kollegen diskutieren, ist einfach jämmerlich.
SPIEGEL: Was sollte denn aus dem alten DDR-System übernommen werden?
MATTHES: Die Kinder- und Jugendsportschulen ganz bestimmt, dazu auch die gezielte wissenschaftliche Begleitung des Leistungssports auf allen Ebenen.
SPIEGEL: Sie arbeiten jetzt an einem Olympiastützpunkt, können also den finanziellen Aufwand im bundesdeutschen Sport beurteilen. Wer soll denn eine noch intensivere Förderung bezahlen?
MATTHES: Es gibt genügend Modelle, für die sich die Industrie als Sponsor anbietet, wenn die Leistung stimmt. So könnten auch zusätzliche Trainer finanziert werden.
SPIEGEL: Pochen nicht die westdeutschen Bundestrainer zu Recht auf ihre Verträge?
MATTHES: Frauentrainer Hans-Joachim Jedamsky hat beispielsweise erklärt, er wolle sich nicht »einfach auf die Straße setzen«, nur weil jetzt erfolgreiche DDR-Trainer auf seinen Posten möchten. Damit ist doch alles gesagt. Es geht also nicht um fachliche Kompetenz, sondern nur um die Stabilität des Stuhles, auf dem man sitzt.
SPIEGEL: Aus diesem Grunde gehen auch die Athleten aufeinander los?
MATTHES: Die ehemaligen DDR-Schwimmer werden nur deshalb geschnitten und schief angeschaut, weil sie schneller sind. Kein Wunder, daß Stars wie Nils Rudolph frustriert aus Deutschland fliehen.
SPIEGEL: In den USA, wo er jetzt startet, verdient er womöglich mehr als im vereinten Deutschland.
MATTHES: Er wird dort nur besser behandelt. Deshalb haben die Schwimmer der früheren DDR gesagt: Ihr könnt uns mal kreuzweise. Ich wäre auch ins Ausland gegangen.