In der Falle
In Materialnot geriet letzte Woche das italienische Fernsehen. Sonst mit dramatischen Szenen eher zu reich gesegnet, lieferte die Fußball-Europameisterschaft zu wenig Stoff.
Ausgerechnet die eigene Mannschaft schaffte in den viereinhalb Stunden der drei Vorrundenspiele nur ein Tor. Statt einer Auswahl prachtvoller Tore das »bellissimo gol« zu entnehmen, konnten die TV-Redakteure immer nur den einen Treffer ihres Stürmers Tardelli gegen England vorführen.
Durch das 0:0 gegen Außenseiter Belgien, eine Mannschaft, die Italiens Nationaltrainer Enzo Bearzot zu Beginn verächtlich als »numero quattro« in seiner Vierergruppe eingeplant hatte, verpaßte Italien das Endspiel. Statt dessen spielten die vereinigten Flamen und Wallonen um den Titel.
»Welch ein Zorn«, wetterte der »Corriere dello Sport« auf der Titelseite über die Niederlage. Erstmals erhielt Italien aus Brüssel statt Geld von der EG »eine Abrechnung mit den Füßen«, so die kommunistische »Unita«.
Italiens Fußballvolk verließ dennoch gefaßt das Olympiastadion in Rom. Sogar zum wichtigsten Spiel der eigenen Mannschaft waren nur 55 000 Zuschauer gekommen, fast ein Drittel der Plätze blieb leer.
Das unerwartete deutsch-belgische Endspiel verwandelte einen großen Teil der 40 000 im Vorverkauf abgesetzten Eintrittskarten zu Makulatur. Auch der Papst irrte, als er unterstellte: »Diese Fußballspiele sind eine zu große Konkurrenz für mich.« Der Petersdom war täglich mehr umlagert als die vier EM-Stadien.
Alle 14 Spiele sahen durchschnittlich nur etwa 25 000 zahlende Zuschauer. Kein Spiel, nicht einmal das Finale, fand vor ausverkauften Tribünen statt, obwohl die italienischen Veranstalter vollmundig geprahlt hatten, daß mindestens fünf Spiele volle Kasse bringen würden.
Doch in den vier während der Europameisterschaft benutzten Stadien, die zwischen 71 180 (Turin) und 83 141 (Mailand) Zuschauer fassen, fanden sich nur zu vier Spielen mehr als 50 000 zahlende Gäste ein. Bei den meisten Spielen blieb die Besucherzahl unter dem Durchschnitt; der vorige Europameister CSSR spielte gegen Griechenland vor nur 7500 Zuschauern.
»Vom Ertrag her war dieses Turnier ein Flop«, zürnte der deutsche Fußballpräsident Hermann Neuberger. »Das nächstemal, 1984, wahrscheinlich bei uns in Deutschland, organisieren wir das anders.« Dann sollen die acht Mannschaften beispielsweise nicht in zwei Vierergruppen, sondern jeder gegen jeden antreten.
Keine Mannschaft brachte Geld heim, nicht mal die erfolgreichen Deutschen, die nach der großzügigen Vorausschätzung der Italiener mit 500 000 Mark Gewinn gerechnet hatten. Im Gegenteil: Die deutsche Italien-Expedition (etwa 1,9 Millionen Mark Kosten) schließt nach einem Defizit von 200 000 Mark bei der vorigen Europameisterschaft 1976 in Jugoslawien auch diesmal mit roten Zahlen ab.
Dabei war Italien fünf Konkurrenten vorgezogen worden, weil es begeisterungsfähige S.159 Fußballanhänger und große Stadien anzubieten hatte.
Doch italienischen Fans waren die Eintrittspreise zwischen 30 und 70 Mark zu hoch. Da zudem das Fernsehen alle Spiele live zeigte, saßen sie lieber vor dem Bildschirm -- allerdings auch da wegen der schlechten Spielqualität mit zunehmendem Verdruß. Auch das zum Turnierbeginn einsetzende Sommerwetter lockte mehr Fans an die Strände als in die Stadien.
Als einzige Sieger in jeder Beziehung entpuppten sich die Belgier, denen Italiens Trainer Bearzot »Menschenjagd« vorwarf, indes sein Gegenspieler, Belgiens Trainer Guy Thys, erklärte: »Wir haben die Italiener mit italienischen Mitteln besiegt: Zeit schinden, Spielrhythmus zerstören, mit Händen und Füßen kloppen und auch das Spucken nicht vergessen.«
Tatsächlich legten die Belgier die wichtigsten italienischen Spieler lahm, so den Spielmacher Antognoni, der schon vor Halbzeit humpelnd in die Kabine trottete. Die Belgier trugen den 35jährigen Wilfried van Moer zur Linderungsmassage. Er sollte ohnehin ausgewechselt werden.
Eine belgische Waffe, die Abseitsfalle, will Italiens Trainer Bearzot jetzt durch Regeländerung ausrotten, nachdem er vor dem Spiel noch siegessicher behauptet hatte, solch »ein Relikt des Fußballs, angewandt nur von Stümpern, kann eine modern stürmende Mannschaft wie Italien nicht aufhalten«.
Die Abseitsfalle dient mehr defensiv spielenden Mannschaften auf die einfachste Art, übermächtig stürmende Mannschaften, wie gelegentlich auch die Deutschen, wiederholt ins Abseits laufen zu lassen.
Einen Augenblick bevor die Angreifer den Ball abspielen, eilt die Abwehrkette der verteidigenden Mannschaft einige Schritte nach vorne. Das führt meist dazu, daß gleich zwei oder drei Angreifer auf einmal allein vor dem gegnerischen Torwart, mithin im Abseits, stehen. Ein Tor der Engländer gegen Belgien, das den Sieg bedeutet hätte, erkannte der Schiedsrichter in diesem EM-Turnier nicht an, weil es aus Abseitsstellung erzielt worden war.
Andere guckten Belgiens Fallenstellern den Abseitstrick rasch ab. So stolperten auch die Deutschen beim 0:0 gegen den Fußballzwerg Griechenland häufig in die Abseitsfalle. Als nun die Belgier das Finale gegen Deutschland erreicht hatten, seufzte Bundestrainer Jupp Derwall: »Jetzt spielen wir gegen das lebendigste Bollwerk der Welt, dat is wie eine Maginot-Linie auf Rädern.«
Die vor dem Finale ins Aus geratenen Italiener nahmen dagegen bei ihrer Rundumkritik auch den portugiesischen Schiedsrichter Garrido nicht aus: »Er hat uns einen Elfmeter versagt«, S.162 rügte Trainer Bearzot. »Das ist ein Fall für das höchste Fußballgericht.«
Dabei geriet Italiens Fußballszene selber zwischen Schiedsrichter und Bezirksgericht: Ausgerechnet während des EM-Turniers hockten auch Nationalspieler auf der Anklagebank.
Nur 800 Meter vom Stadion in Rom entfernt, stotterte Italiens bester Mittelstürmer, Paolo Rossi, gegen den Vorwurf an, bei betrügerischen Fußballwetten mitgemauschelt zu haben.
»Hätte er nicht so schäbig gemogelt, hätte er für uns Tore geschossen«, murrte Italiens Fußballpräsident Artemio Franchi. »Jetzt hat er eine noch größere Strafe verdient als das Gesetz vorsieht.«
S.158In Mailand im Spiel Holland gegen die CSSR.*