BOXEN Inkognito k.o.
Die Helfer am Boxring hatten nicht schwer zu tragen. Nur wenig mehr als 95 Pfund wog der groggy geschlagene Francisco Brito aus Venezuela. Was die Zuschauer nicht wußten, war, daß die Helfer einen Olympiasieger in ihren Händen hielten.
Noch 1968 in Mexico City hatte der Mestize unter seinem vollen Namen Francisco Brito Rodriguez für Venezuela die bislang einzige Goldmedaille gewonnen, im Halbfliegengewicht. Doch einige Monate vor den Olympischen Spielen in München erlitt Rodriguez eine Wo. -Niederlage. Da strich der beschämte Athlet seinen Nachnamen.
»Ich wußte ja auch nicht, daß das der Olympiasieger ist«, berichtete hinterher der Australier Dennis Alan Talbot. Unbekümmert hatte er den inkognito kämpfenden Olympia-Star verprügelt.
Viele Boxer wußten im stärkstbesetzten olympischen Boxturnier aller Zeiten nicht immer, wen sie vor sich hatten. 85 Nationen hatten 357 Boxer in 346 Kämpfe geschickt. Bei 25 Veranstaltungen mit nahezu 100 Stunden permanentem Faustkampf bleibt der Boxring als einzige Wettkampfstätte, in der für vier Millionen Mark umgebauten Eissporthalle, vorn ersten bis zum vorletzten Olympiatag frei für Schläger aller Schattierungen. Fast jeder 27. Olympiakämpfer in München ist ein Boxer.
Weit mehr als 100 Fausthandschuhpaare -- mit weißem Aufschlag, damit die Treffer für Kampfrichter und Kenner besser auszumachen sind -- stellte der Veranstalter zur Verfügung. Beim Hersteller wurde zeitweilig das Ziegenleder knapp; dennoch lieferte er pünktlich.
Immer mehr kleine und meist von Entwicklungshilfe zehrende Länder pochten -- angespornt durch den Olympiasieg des Venezuelaners Rodriguez -- auf das Faustrecht und entsandten selbst Boxer, die noch nie einen internationalen Wettkampf bestritten und sich somit drei Runden zu je drei Minuten Kampfzeit gesundheitlicher Gefährdung aussetzten. In einem viertägigen Lehrgang hatte der Weltverband die Ringrichter aufgefordert, Schwächlinge und allzu unfertige Faustkämpfer beizeiten aus dem Ring zu nehmen.
Aber zur nationalen Repräsentation für die Randstaaten in der Dritten Welt eignete sich der Boxring noch am besten. Denn nicht nur die Ausrüstung ist billig und die Ausbildung im Olympiaring kostenlos erhältlich, sondern auch Schläge auszuteilen und Schmerzen auszuhalten vermag nahezu jeder junge Mann in der Mongolei oder im Senegal.
Die meisten schwarzen und braunen, gelben und roten Boxer hielten Hiebe bis zu drei Runden lang aus und siegten bisweilen. So versetzte der Kolumbianer Eduardo Barragan dem Kenia-Boxer lohn Mwaura Nderu zwar drei Runden lang schwere Schläge an Kopf und Körper, doch zum Sieger wurde am Ende der Kenia-Kämpfer, Vater von vier Kindern, erklärt.
Unter Kampfrichter-Kabalen litten freilich auch bekanntere Größen aus den USA und Europa. So verdankte der Sowjetrusse Walerij Tregubow seinen Punktsieg über den US-Boxer Reginald Jones nur dem jugoslawischen Kampfrichter Ivanovic Später verhalf der Jugoslawe auch noch dem UdSSR-Favoriten Kusnetzow zum umstrittenen Punktsieg über einen Kubaner. Und schließlich mußte der Düsseldorfer Werner Schäfer dem Ghanesen Joe Destimo trotz Überlegenheit den Punktsieg überlassen.
Viele Exoten taumelten und tänzelten bereits nach dem Vorrundenkampf als Ausgeschiedene zur Halle hinaus -- wegen lustiger Einlagen meist vom Beifall umrauscht.
Der frühere Europameister Wilhelm Hoepner, der den Kenia-Boxern als Berater zur Verfügung steht, hält einige Schwarzafrikaner bei genügender Vorbereitung für entwicklungsfähig. »Da unten in Afrika gibt es eine Menge Jungens, die mächtig hauen können. Nur von Taktik haben sie keine Ahnung.«
Zahlreiche europäische Trainer hatten im Eilverfahren versucht, den Freiwilligen aus Steppen und Savannen Nachhilfeunterricht zu geben. So unterwies der West-Berliner Coach Michael Emmerich drei Boxer aus Kamerun. je zwei aus Dahomey und Gabun, Sudan und Indien und sogar einen aus dem Tschad. Die erwarteten Niederlagen freilich schoben mitgereiste schwarze Funktionäre und Familienmitglieder. die ihre Prügelknaben tröstend in die Arme schlossen, dem weißen Trainer zu.
»Weil ich West-Berliner sei«, resümierte Emmerich über die allgemeine Hau- und Schau-Lust, »wären die starken Boxer aus dem Ostblock auf meine Burschen besonders scharf gewesen, haben die mir vorgeworfen.«
Dem Publikum hingegen schien das Preisprügeln ausnahmslos rechten Spaß zu machen. Nie war die 7200 zahlende Zuschauer fassende Boxhalle schon in den Vorrunden-Veranstaltungen von weniger als 6500 Besuchern besucht. Willig unterwarfen sich die meist männlichen Fans sogar dem Rauchverbot für Besucher. Einige Taschendiebe wurden von den Saalordnern -- darunter ehemalige Deutsche Meister wie Paul Hogh und Adolf Brandenburger in flagranti ertappt.
Die allzeit Spannung verschaffende Devise des »trau, schau und hau« im Münchner Box-Olympia bekamen auch die bundesdeutschen Fernsehanstalten bei ihren Dauersendungen zu spüren. Wenn allzulange Turnen oder Kunstspringen den Blick in den Boxring verstellte, riefen Fernsehzuschauer in den TV-Zentralen an und forderten mehr Boxkämpfe im Programm.
Nur die bundesdeutschen Ringrichter rügten das goldene Fausthandwerk zu München: »Ick muß mir Souvenirs bei Hertie selbst koofen, um sie mit Freunden aus anderen Ländern zu tauschen«, rügte einer. »Selbst die Kameraden aus Kenia und Sudan haben Jeschenke von ihrem Verband mitbekommen.«