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JAPANER SIND BESSERE DEUTSCHE

Von Gerhard Mauz
aus DER SPIEGEL 42/1964

Von der Anzeigetafel herab mahnte »citius - altius - fortius« eher zum Aufbruch des Globus in eine neue Welt als zur Steigerung sportlicher Leistungen. Im Krachen der Salutschüsse flatterten die Tauben, aus ihren Käfigen am Rand der Aschenbahn entlassen durch den vielfarbigen Wirbel der Luftballons, und wenigstens 65 000 Handpaare schmetterten Beifall.

Blasmusik und Chor erreichten ein Klangvolumen, das Richard Wagner, hätte er das totale Völkerkunstwerk geahnt, zur Verwendung kompletter Nationen beim Instrumentieren verführt hätte. Feuerwerk fuhr jaulend, blitzend und rieselnd zwischen die Hubschrauber am blauen Himmel, während die olympische Jugend der Welt reglos im Zentrum des Ausbruchs hinter den Fahnen ihrer Länder stand.

Nur die bundesdeutschen Journalisten auf der Tribüne in Tokios National -Stadion blickten melancholisch inmitten des Aufbruchs zu neuen Ufern. Das vereint hinter dem Schild »Germany« marschierende Deutschland war ein Fernost -Märchen. Das Team der Athleten aus »Germany East« und »Germany West« war bei der Probe für die Eröffnung der XVIII. Olympischen Spiele von japanischen Oberschülern unerreichbar dargestellt worden. Japaner sind bessere Deutsche.

Magerer Trost für die Bundesrepublik: Der Kommunismus sächsischer Prägung repräsentiert in Tokio den häßlichen Deutschen. Sein westdeutscher Widerpart hört sich eher wie das Greinen eines Milbenforschers an, der für sein Fach finanzielle Mittel gegen die Ansprüche von Atomphysikern durchzusetzen sucht.

»Gähn Se wech«, stammelte der junge Mann aus »Lejpzich«, als ihm im Matsuzakaya-Ginza Department Store eine zwar deutsche, aber unverkennbar westdeutsch gekleidete Stimme einen »Guten Tag« bot. Die Frage, wie er sich eingelebt habe, ließ ihn die Flucht in Richtung der Abteilung »Unterwäsche Damen« ergreifen, als sei ihm Rübezahl in asiatischer Kaufhaus-Version erschienen.

Wo etwa französische Olympioniken fassungslos im Menschenstrom der Harumi-Dori treiben, die in Tokios Zentrum führt, wildfremde Touristen aus der Heimat begrüßend, als träfen sie in ihnen Sintflutüberlebende, begegnen sich Deutsche aus Ost und West wie 85 000-Tonner auf hoher See im Nebel.

Westdeutschlands Mannschaftsführer Gerhard Stöck, obwohl als Hamburger Sportamts-Chef zweifellos der Distanziertheit nicht ungewohnt, vermutete denn auch bereits ein sowjetzonales »Sprechverbot«.

Ostboß und Chef de Mission Ewald widersprach dem entschieden, wenn auch nicht ohne ein geschmeicheltes Lächeln. Für ihn kommen Fragen nach der abweisenden Haltung der von ihm treulich geleiteten Teilnehmer an der Versammlung ums völkerverbindende Feuer aus Hellas Komplimenten gleich. Bestätigen sie ihm doch, daß unter der Bezeichnung »Linientreuer auch neugermanisch gefolgt wird.

Ingrid Krämer, 21, zweifache Goldmedaillengewinnerin von Rom im Kunst- und Turmspringen, inzwischen in Rostock mit dem Pioniermajor Engel, 24, verheiratet, erläuterte auf dieser Spur der ortsansässigen Presse unübertrefflich den Unterschied zwischen dem Klima der DDR und der Atmosphäre der Bundesrepublik. In Westdeutschland kann einer nur Sport treiben, wenn sein Vater reich ist.«

Den sportbegünstigenden Vater Staat verleugnete Ingrid Engel-Krämer bei ihrer Antwort allerdings, wenn auch, nach ihren weiteren Erklärungen, die DDR nächstens infolge der Anstrengungen von acht Spezialsprung-Staatstrainern über eine zweite und dritte ihresgleichen verfügen wird. Einstweilen feiert Japans Presse allein die vom Himmel (springende) wie auf Erden (als Hausfrau und Studentin) gleich tüchtige Blondine als »the diving heroine«.

So war es ihr auch möglich, beim feierlichen Einzug ins National-Stadion am Sonnabend das gesamtdeutsche Banner nicht nur ihren gerechten Brüdern und Schwestern, sondern auch den ungerechten Söhnen und Töchtern reicher Eltern voranzutragen. Sie fühlte dabei das größte an den Spielen beteiligte Kontingent an. Mit 510 Teilnehmern stellt sich in Tokio unter der Bezeichnung »Germany« eine Truppe, die demonstriert. wie stark Uneinigkeit macht. Die Großmächte USA (478 Teilnehmer) und UdSSR (470 Teilnehmer) werden Lehren daraus zu ziehen haben, daß neuerdings auf diese Weise Kraftballungen entstehen.

Das Tauziehen um den West-Berliner Finndingi-Segler Kuhweide, das auf seinem Höhepunkt Brundage die feierlichen Stunden der Wiederwahl vergällte, dürfte die Abneigung des IOC -Präsidenten gegen eine eigene Olympia -Mannschaft der Zone bestärken. Ihm und den meisten internationalen Fachverbänden kann nicht daran gelegen sein, in Mexiko wenigstens 1000 deutsche Teilnehmer in zwei auch formell getrennten Mannschaften aufmarschieren zu sehen. Kommentar eines französischen Journalisten: »Die Teilnahme an den Olympischen Spielen kann nicht auf Deutsche beschränkt werden.«

Während auf diese Weise weltweite Anstrengungen am Werk waren, um Deutsch-West und Deutsch-Ost klarzumachen, daß man sie weiterhin allemal als Deutsche ansehen wird, bemühten sich die Offiziellen der Bundesrepublik, den günstigen Wind zu unterstützen, der die Entwicklung hinter den Blättern hertrieb, die NOK-Präsident Willi Daume unlängst nach Ost-Berlin schrieb. Der Bannerträger beim gemeinsamen Einmarsch soll fortan »turnusmäßig« jeweils von Ost und West gestellt werden. Danach würde also bei den Winterspielen 1968 ohne Rücksicht auf die Teilnehmerzahl aus Ost und West ein DDR-Sportler die Fahne vorantragen, da in Innsbruck West-Georg Thoma diese Rolle anvertraut war.

NOK-West-Offizieller Dr. Max Danz: »Damit ist auch das entschärft.« Zonen -Sportbund-Präsident Ewalds Beitrag zur Entschärfung war stumpfer. Er beteuerte, die Zonensportler keineswegs angewiesen zu haben, ihre westdeutschen Mitstreiter nicht zu grüßen. Warum deutscher Gruß in Tokio so schwer getan oder erwidert wird, ist danach unklar. Keinen Zweifel ließ Ewald hingegen daran, daß er beabsichtige, beim Einmarsch (vorgeschriebene Schrittlänge: 75 Zentimeter) jeden verfügbaren Ostdeutschen, Funktionäre eingeschlossen, mitzuführen, Stöck wehrte diesen Versuch, der aus der 500 -Mann-Truppe einen kleineren Heerbann gemacht hätte, empört ab: »Da wird ein olympischer Eid geschworen von Athleten. Die sollen da stehen.«

Am grünen Tisch hatte der Zoneneinsatzstab mehr Erfolg. Lautstarker Protest dagegen, daß nur ein Schild, »Germany«, den Tisch zierte, wurde zwar von Brundage mit dem Hammer ausgeklopft. Doch um des Friedens willen wurden eilends Schilder »Germany East« und »Germany West« herbeigeschleppt.

Die Hissung der deutschen Fahne im Olympischen Dorf mußte mehrfach verschoben werden, da Bonns Botschafter Dittmann teilnehmen wollte. Ein Zonenfunktionär offenbarte sich zum Ausgleich als Staatssekretär, was wiederum bundesrepublikanische Skrupel wegen möglicher Anerkennung des Regimes nach sich zog. Letztes Zonen -Manöver:

Die Zone hat den Ausfall ihres Teilnehmers Haus Reck so lange, verheimlicht, daß der westdeutsche Ersatz Holtzmann nicht mehr starten konnte.

Baron Pierre de Coubertin war leider, als er die Olympischen Spiele der Neuzeit in Gang brachte, nur davon ausgegangen, daß sportlicher Wettkampf eine Brücke zwischen nationalem Stolz und internationaler Solidarität schlagen kann. Brückenschlag innerhalb einer Nation als eine mögliche Aufgabe für den Sport sah er nicht vor dem Bug.

West-NOK-Präsident Daume, erschöpft vom vorolympischen alldeutschen Streit, wappnete sich jedenfalls für die zweifellos wachsenden Anforderungen während der Spiele durch eingeschobenen Urlaub auf Hawaii, von dem er mit sonnenbrand-versehrten Lippen in Tokio eintraf.

Daume fand schon andere Blessierte vor. Die Bulletins der Mannschaft aus dem Olympischen Dorf und dem Ausweichquartier Hakone glichen zeitweilig eher ärztlichen Depeschen aus einem Katastrophengebiet denn Meldungen aus den Lagern der Sportjugend. Von den Leiden bundesdeutscher Teilnehmer ist vor allem der »Bluterguß im oberen Schweifwirbel« zu erwähnen, den Dressurreiter Klimkes Dux erlitten hat, den er aber, nach sachverständiger Auskunft, bis zu seinem Auftritt überwinden kann.

Deutsche Fahnenträgerin Engel-Krämer

»Gähn Se wech«

Flaggenhissung im Olympischen Dorf

»Bluterguß im Schweifwirbel«

Ostdeutscher Chef de Mission Ewald (vorn l.), westdeutscher Stellvertreter Stöck (vorn r.): Uneinigkeit macht stark

Deutsche Olympiateilnehmer im Quartier*

Deutsche stellen das stärkste Kontingent

* Leichtathleten Kinder, Jüttner im Korakuen-Hotel in Hakone.

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