Je mehr Dumme, desto besser für die Schlauen
Alles hängt davon ab, wie er morgens aufwacht: Wenn er so ein irres Gefühl verspürt und es am ganzen Körper kribbelt, kann er gar nicht schnell genug zum Flughafen und in die nächste Maschine nach Paris gelangen, der einzigen Stadt Europas, in der jeden Tag Pferderennen stattfinden.
Den Totalisator auf der Trabrennbahn im Bois de Vincennes sprengen, davon träumt er noch immer, obwohl er dort beim letzten Mal umgerechnet 59 000 Mark verlor, nicht gerechnet die 4000 Mark, für die er sich anschließend auf den Champs-Elysees neu einkleidete. Niederlagen, das hat er stets so gehalten, werden stilvoll zelebriert. Gottlob kommt die Katerstimmung immer erst am nächsten Morgen, dann ist der Macher in ihm für ein paar Stunden gestorben. Abends findet man ihn garantiert wieder auf der Rennbahn.
Es hängt kein Schild an der Tür, man spürt auch so: ein Milieu nur für Insider, mit einem leichten Anstrich von Halbwelt. Im »Inter-Club« im Tribünenhaus der Gelsenkirchener Trabrennbahn sitzen nur sogenannte Groß-Wetter. Zigarettenqualm beißt in den Augen, der Boden ist übersät mit gebrauchten Wettscheinen. Draußen vor den Panorama-Scheiben hetzen schweißnasse Pferde um die Bahn, drinnen herrscht fiebrige Wettkampfstimmung. Wenn das Rasseln der elektrischen Buchungsmaschinen verstummt, beginnt das aufgeregte Geschrei der Wetter, die beim Finish von den Stühlen springen und beschwörend den Namen ihres Favoriten rufen.
Nur an Tisch sieben ist es unnatürlich still. Karl Höhler, 23, genannt Charlie, hat diesen Tisch seiner strategischen Bedeutung wegen - beste Fensterlage, nur wenige Schritte bis zum Wettschalter - für 400 Mark im Jahr gemietet. Für ihn ist auf jeder Rennbahn ein Tisch reserviert.
Charlie ist schlank, sorgfältig gekleidet, er raucht nicht, trinkt kaum Alkohol, hält seinen Körper gut in Schuß. In seinem Beruf ist das wichtig: Charlie arbeitet als Turf-Profi, er lebt davon, den Ausgang von Pferderennen vorauszusagen. Das klappt nicht, wenn man keine Kondition hat. Auch nicht, wenn man schlecht geschlafen oder die seelische Balance verloren hat. Das zeigt sich an diesem Abend in Gelsenkirchen.
Wie immer hatte Charlie, als es aus dem Lautsprecher tönte: »Noch eine Minute bis zum Start«, das Fernglas gehoben und sich die Pferde in achtfacher Vergrößerung vors Auge geholt. Ob ein Tier beim Start schwitzt oder stark erregt ist, ob es den Kopf schief hält oder beim Anfahren des Startwagens springt, jedes Detail ist wichtig, kann den Unterschied zwischen null und 50 000 Mark ausmachen.
Besonders, wenn zwei Favoriten im Feld sind: Dann muß sich Charlie in letzter Sekunde blitzartig ein Urteil bilden und Heinz, seinem Helfer, der mit zwei verschieden präparierten Bündeln Wettscheinen am Schalter steht, per Handzeichen die Entscheidung signalisieren. Heinz steckt dann ein Bündel wieder in die Tasche, das andere gibt er ab.
Das machen sie immer so, seit ihnen mal eine hohe Wette platzte, weil sich ein Pferd bei der Anreise im Transportwagen die Fessel verletzt hatte, was nicht einmal der Trainer wußte. Charlie entdeckte es, als sich die Pferde hinter dem schneller werdenden Startauto formierten, aber da waren die Wettscheine schon gestempelt.
Diesmal wurden die Kassen geschlossen, bevor Heinz die Scheine abgeben konnte. Charlie ist sauer über die Panne, denn er ist Profi, und ein Profi unterscheidet sich von einem normalen Rennplatzbesucher vor allem dadurch, daß er nahezu hundertprozentig sicher ist, wie ein Rennen ausgeht, sonst würde er nicht wetten. Den Einlauf vorher gewußt und nicht gewettet zu haben, ist für ihn viel schmerzhafter, als getippt und verloren zu haben.
Wenn so etwas passiert, ist für ihn der Abend gelaufen, dann könnte er eigentlich nach Hause gehen. Aber er bleibt, denn er wettet grundsätzlich jedes Rennen, im Jahr sind es rund sechstausend.
Beim Arbeitsamt ist er als erwerbslos registriert, unter Wettprofis gilt er als Großverdiener. Von seinem Kaliber gibt es in der Bundesrepublik keine drei: Sein Jahresumsatz beträgt nach eigenen Angaben fünf Millionen Mark, der Reingewinn schwankt zwischen fünf und zehn Prozent, netto, versteht sich, denn Wettgewinne sind steuerfrei. S.163
Sieben Tage in der Woche fährt er in seinem weißlackierten Mercedes 280 SEL auf die Rennplätze, im Sommer nachmittags zu den Galoppern, abends zu den Trabern, im Winter sind's nur die Traber, die laufen auch bei Schnee und Eis. Es kann sein, daß er zu einer Nachmittagsveranstaltung nach Mailand oder Paris fliegt und abends in Dinslaken oder Recklinghausen wettet. Verpaßt er auf dem Rückweg sein Flugzeug, verlegen deutsche Veranstalter ihre Rennen schon mal um ein, zwei Stunden; sie wissen, wenn der Höhler da ist, steigt der Totalisator-Umsatz.
Dieses Mal hat Charlie 18 000 Mark eingesteckt, fünf Bündel Hunderter, der Rest Tausender, sein Betriebskapital für einen Abend.
Seit ihm in Mönchengladbach ein aufmerksamer Besucher die Kripo auf den Hals hetzte, weil der glaubte, einen Bankräuber entdeckt zu haben, fingert er die Scheine nur noch einzeln aus der Tasche. Den aktuellen Kontostand überträgt er säuberlich mit Bleistift von einer Seite des Programmhefts auf die nächste, nach dem sechsten Rennen ist er präzise mit 8150 Mark im Minus. Wie er sich denn fühlt, frage ich vorsichtig. »Gewohnheitssache«, antwortet er achselzuckend. Er spricht hastig, abrupt, seine Sätze kommen wie aus einem Zerhacker, und seine Augen wandern dabei ruhelos umher. »Ich hab' keine Beziehung zu Geld, hab' alles beim Wetten gewonnen. Es tut nicht so weh, wenn ich's dabei wieder verliere.«
Von Zeit zu Zeit kommen andere Wetter an seinen Tisch. Ein etwa 40jähriger Mann mit schmalem Gesicht und abgetragener Kleidung, einer von den »Ich-weiß-alles-Typen«, die es auf jeder Rennbahn gibt, will ihm einen ganz heißen Tip fürs nächste Rennen verkaufen. Höhler winkt ab, er kennt den Mann, den sie »Henker« nennen, ist allergisch gegen dessen todsichere Tips. Seinen Spitznamen trägt der »Henker«, seit zwei seiner Klienten wegen hoher Wettschulden aus dem Leben schieden.
Charlie fallen auf Anhieb ein halbes Dutzend Rennbahngänger ein, über die er in der Vergangenheitsform erzählen kann. Sie wollten leben wie er, aber als sie die erste Pechsträhne erwischten, die ein Profi alle vier Wochen durchlebt, als das Auto und alle Wertsachen verkauft und der Pelzmantel der Freundin ins Pfandhaus getragen waren, hielten sie den psychischen Druck nicht aus.
Es geht ja dabei nicht nur ums Geld, das ganze Wissen und Können steht mit auf dem Spiel, eine längere Negativ-Serie berührt das Selbstvertrauen, weckt Zweifel und verursacht wieder neue Mißerfolge; ein Teufelskreis, der schnell zerstörerisch wirken kann.
Da muß man durch, meint Charlie, er ist sogar davon überzeugt, daß nur der ein guter Profi werden kann, der ein paar Mal am Boden lag.
»In diesem Geschäft darfst du dich nur auf deine eigenen Augen verlassen, man muß die Pferde sehen.« Deshalb würde er nie in einem Buchmacherladen wetten, ebensogut, meint er, könnte er sein Geld zum Fenster hinauswerfen. Er würde auch keinem raten, nur einmal die Woche auf der Rennbahn zu wetten, das ist Dummheit. Er lacht: »Je mehr Dumme, desto besser für die Schlauen.« Dabei wollte er eigentlich gar nichts Abfälliges über diese Leute sagen, schließlich lebt er von ihren Einsätzen. Aber wer die Zahlen seines Autokennzeichens setzt, wer Pferde wie Lottonummern behandelt, verdient seiner Meinung nach nichts Besseres.
Als ob das Wetten so einfach wäre] Dann hätte man längst einen Computer entwickelt, der alle Pferdedaten aufnimmt S.166 und die richtigen Zahlen ausspuckt. Mit Computern kann man vielleicht das Wetter vorhersagen oder einen Schachmeister besiegen, aber den Einlauf eines Pferderennens bestimmen? Unmöglich.
Irgendwann hatte jeder Turf-Profi ein Schlüsselerlebnis, das sein Selbstvertrauen in gigantische Höhen trieb und in ihm den Wunsch weckte, für den Rest des Lebens sein Geld mit Wetten zu verdienen. Charlie Höhler, der keine zehn Minuten von der Gelsenkirchener Bahn entfernt aufwuchs und schon als Knirps mit zu den Rennen lief, erlebte diesen Augenblick kurz nach seinem 16. Geburtstag.
Gewiß, er hatte auch schon vorher gewonnen. Seine Mutter, die immer die Wettscheine abgeben mußte, weiß noch genau, was die Dreierwette zahlte, nämlich 795 Mark, als er sie zum erstenmal traf; er war damals neun.
Mit zwölf kam er aufs Gymnasium und kannte zu diesem Zeitpunkt schon jedes Pferd, jeden Fahrer, jeden Trainer. Und er kannte ihre Macken. Als er dann vier Jahre später als einziger unter Tausenden die Dreierwette traf - es gab 133 000 für zehn -, konnte ihm niemand mehr das Abitur schmackhaft machen.
Statt zur Schule ging er auf die Rennbahn. Seit sechs Jahren denkt er nur noch ans Wetten, an die Pferde, an die Rennen, ans Gewinnen, ans Verlieren. »Ich wär' doch verrückt, wenn ich was anderes machen würde, es gibt nichts, was ich besser kann als wetten.«
Wie schnell ein Pferd im letzten Rennen gelaufen ist, wo, gegen wen und auf welchem Boden, das weiß jeder Rennbahnbesucher, der sich eine Wettzeitung kauft. Die Papierform interessiert Charlie nicht, daran verschwendet er keine Sekunde Zeit. Wer vom Wetten leben, mit den Wett-Erlösen seine Rechnungen, sein Essen, seine Miete bezahlen will, muß andere Informationen haben, nur dann ernährt die Sache ihren Mann.
Er muß wissen: Wie schnell sind die Pferde am Renntag? Charlie steht deshalb jeden Morgen mit der Stoppuhr beim Training und mißt ihre Kilometerzeit, ein wichtiges Indiz, denn bei den Trabern kommen meist gleichrangige Pferde an den Start. Charlie: »Der Schnellste gilt als Favorit, aber entscheidend ist die Tagesform.«
Wie hat der Favorit morgens gefressen? Ist er erkältet? Hat er Husten? Wenn ja, kommt er, ähnlich wie ein grippegeplagter Mensch, geschwächt an den Start. Solche Informationen, egal ob er sie vom Stallburschen oder Trainer erhält, sind viel Geld wert. Nützliche Auskünfte, das wissen alle in dieser Branche, werden von ihm gut honoriert. Wer etwas weiß, sagt es ihm, das ist nicht verboten. Wenn Charlie dann mit seiner schriftlich fixierten Marschroute auf der Tribüne erscheint, ist er der bestinformierte Mensch auf der Rennbahn.
1000 Mark pro Rennen muß er schon setzen, sonst lohnt es sich nicht, denn in einer Beziehung ist es wie beim Roulette: Je höher der Einsatz, je mehr Möglichkeiten bei der Dreierwette kombiniert werden, desto größer sind die Gewinnchancen.
Dann ist die Sache, sagt Charlie, fast risikolos - wenn man mal davon absieht, daß ein Pferd beim Start behindert werden kann, daß es galoppieren, daß die Leine reißen, ein Geschirrdefekt auftreten, der Reifen eines Sulkys platzen, der Fahrer einen schlechten Tag haben kann oder bestochen wurde.
Charlie Höhler sagt: »Überall wird geschoben, aber wenn es so viel Bestechung gäbe, wie immer behauptet wird, könnte unsereiner gar nicht existieren. Da müßte man jedes Mal Angst haben, daß irgendeiner ein Ding dreht.«
Diesmal, in Gelsenkirchen, setzt er im vorletzten Rennen 6000 Mark auf einen dreijährigen dunkelbraunen Hengst mit Namen »Koran«.
Daß er auf Sieg wettet, ist selten. Bei den Trabern enden etwa 70 Prozent aller Rennen mit Favoritensiegen, entsprechend wenig zahlt die Siegwette. Da muß es schon ein Außenseiter wie »Koran« sein, den er wochenlang sorgfältig beobachtet hat, um sicher zu sein, daß das Pferd seine Höchstform noch nicht überschritten hat. Darin besteht die Kunst: auf ein Pferd in dem Augenblick zu wetten, in dem es an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit läuft.
»Koran« hat einen guten Start, läßt sich aber in der Mitte des Rennens auf die zweite Spur drängen, »die Todesspur«, wie Charlie sie nennt, weil ein Pferd aus dieser Position so gut wie nie gewinnen kann.
Auf der Geraden macht »Koran« mächtig Tempo und geht schließlich noch Kopf an Kopf mit einem Konkurrenten durchs Ziel - totes Rennen, also zwei Sieger? Es dauert fünf Minuten, bis das Zielphoto entwickelt ist; Zeit genug für Charlie, um über die Härte des Schicksals nachzudenken. Sein Herz pumpt wie verrückt, seine Nieren rebellieren, er rennt zum Klo.
Dann der Richterspruch: »Erster: Koran.« Charlie atmet tief durch, er wußte, daß nur »Koran« gewinnen konnte. Sekunden später kommt die Korrektur: Der Sieger ist auf den letzten Metern galoppiert, er muß disqualifiziert werden.
Charlie wird blaß, die Adern an den Schläfen treten hervor. Erst fünf Minuten später hat er das Ergebnis verdaut, nun sieht er darin sogar etwas Positives: Grausamer kann er sein Geld nie wieder verlieren.