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Jo mei, I bin a Ami

Der jäh ausgebrochene Fußball-Boom in den USA machte »Kaiser« Franz Beckenbauer zum beliebtesten Deutschen. Der Münchner ist bereit, für immer in Amerika zu bleiben.
aus DER SPIEGEL 37/1977

Beidhändig tastet der Mann den Unterleib ab. An den Leisten verharren die Fingerspitzen, drücken kräftiger ins Fleisch. Plötzlich zieht er die Beine an, greift nach den Fersen, massiert die Achillessehnen, etwa fünf Minuten. dann streckt er sich wieder ganz lang in seinem Bett aus. Jeden Morgen checkt Fußballkaiser Franz Beckenbauer, 31, sein Arbeitsgerät: den Körper.

»Wenn ich liege, tun die Achillessehnen nicht gar so weh.« Die Arbeit auf den mit Kunststoff ausgelegten US-Fußballfeldern zerrt die Sehnen und Muskeln, staucht ihm die Gelenkpfannen im unteren Knochengerüst.

»Die meisten Plätze haben hier keinen fabrikneuen Kunststoffrasen«, berichtete Beckenbauer. »Sie sind hart wie Beton, haben Löcher, die mit Sand gefüllt werden, und sind oft uneben und schief.«

In den letzten 400 Tagen bestritt Beckenbauer mehr als 120 Spiele ("Jetzt bin ich urlaubsreif"). Bis Oktober muß er noch durchspielen. Demnächst gastiert er auch in China.

Doch die Knochenarbeit hat sich gelohnt, für Cosmos New York, für Beckenbauer und für den neuen US-Fußball-Markt. Beckenbauer, Meister von Deutschland, Europa und der Welt, wurde am vorletzten Sonntag auch US-Meister. »Binnen drei Monaten ist hier noch keiner Champ geworden«, erklärte Beckenbauer stolz.

Nur drei Amerikaner spielen beim US-Meister. Neben Beckenbauer kickt für Cosmos auch der brasilianische Weltmeister Pelé, 36. Die Geschichte des US-Fußballs begann, als hätte Hollywoods Filmära mit Richard Burton und Liz Taylor angefangen.

Den Klub Cosmos hatte 1971 der Konzern Warner Communications eigentlich als Abschreibungs-Firma für 25 000 Dollar erworben. Fußball (in den USA: Soccer) hielt niemand für ein Geschäft mit Zukunft. Amerikanischer Football und Pferderennen, Base- und Basketball, Tennis und Golf galten als Goldgruben.

Doch seit Pelé und erst recht Beckenbauer zwischen New York und Los Angeles, Seattle und Tampa in Florida am Ball sind, entwickelte sich Soccer zum Mannschafts-Sport mit der größten Zuwachsrate in den USA. Der Marktwert der Cosmos-Spieler beträgt inzwischen zehn Millionen Dollar.

Schon 1972 ermittelte eine Gallup-Umfrage, daß 13 Prozent der Amerikaner Soccer bevorzugten. Inzwischen schwärmen nahezu 30 Prozent der US-Bürger für den Fußball nach europäischer Art. Nur noch American Football, dessen Spielzeit (September bis Januar) an die Soccer-Saison (März bis August) anschließt, und Pferderennen zählen augenblicklich noch mehr Anhänger als der europäische Fußball.

Der amerikanische Football wird vorwiegend von gutgepanzerten Spielern mit den Händen ins Ziel getragen, die Füße sind zum Treten des Gegners da. Jährliche Todesrate: bis zu 49. Im europäischen Fußball ist Handspiel verboten, nachgetreten wird nur, wenn der Schiedsrichter wegguckt. Der vor Jahren noch als »Emigranten-Sport« verhöhnte Soccer-Wirbel »breitet sich«, so »U.S. News & World Report«, besonders »unter jungen Menschen schnell aus

Amerikaner zwischen 18 und 25, Vietnam-Kriegsgegner und sogar Hippie-Anhänger gelten als typische Fans des Fußballs made in Europe. 49 Prozent der zahlenden Zuschauer. sind Frauen. Mädchen spielen Fußball unter sich, aber auch in gemischten Mannschaften. Soccer ist der beliebteste Schulsport. Beckenbauer: »In zehn Jahren gibt es bestimmt die ersten Weltklassespieler amerikanischer Abstammung.«

Der deutschstämmige Hans Stierle, einer der Gründer der Soccer-Organisation, schildert den kommerziellen Aufstieg des Fußballs in den USA: »Als ich vor zehn Jahren in einem kalifornischen Sportfachgeschäft einen Fußball verlangte, fragte mich der Verkäufer verwirrt, ob ich einen Hockey-Puck meinte.« Inzwischen türmen sich Fußbälle auch in den Schaufenstern; für Soccer wirkte es sich günstig aus, daß für einen Football-Armisten 18 Fußballer ausgerüstet werden können.

Als Cosmos New York 1972 erstmals US-Soccer-Meister geworden war, guckten nur gut 200 Fans dem Spiel der Fuß-Akrobaten zu. Die alte US-Sitte, daß kein Sport sein könne, was nicht mit der Hand gespielt oder gewuchtet wird, schien die führende Sportnation der Welt auf ewig vom beliebtesten Spiel der Welt fernzuhalten.

Aber dann gelang den Cosmos-Managern der Coup des Jahrhunderts. Sie überredeten den Brasilianer Pelé, den Fußball in den USA populär zu machen.

Da Pelé mit seinen brasilianischen Geschäften in Schwierigkeiten geraten war, von Cosmos jedoch fast fünf Millionen Dollar geboten bekam, kehrte er in die Arena zurück. Der stets freundliche Mann mit den hervorquellenden Augen kam an. Auch wenn er fern in Los Angeles oder in Florida spielte, erhielt er den meisten Beifall. Dennoch jagte Cosmos vergebens der zweiten Meisterschaft nach. Da holten sie Beckenbauer.

Bei der Cosmos-Offerte glaubte er zunächst an einen Hörfehler. »Sieben Millionen Mark für mich alten Mann«, fragte der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft zurück. »Im September werde ich 32.« Cosmos beruhigte, kein Hörfehler, sondern sieben Millionen für drei Jahre, und nur für Fußball. Von dem Münchner verlangte der Klub keine Werbearbeit, wie sie noch Pelé verrichten mußte.

Beckenbauer langte zu. »Meine deutsche Zukunft ist doch abgelaufen«, erkannte er. Der Deutsche Fußball-Bund hatte noch versucht, ihm für spätere Zeiten den Posten des Bundestrainers anzubieten -- vergebens.

Sogar sein väterlicher Freund, Bundestrainer Helmut Schön, war pikiert: »Ein Jahr vor der Weltmeisterschaft in Argentinien war das kein schöner Zug vom Franz.« An Warnungen für den Sohn eines Postbeamten aus Münchens Arbeiterviertel Giesing fehlte es auch nicht. »Beckenbauer wird sich in den USA zu Tode langweilen«, prophezeite der englische Fußballjournalist Brian Glanville. Der Prophet irrte.

»Es war das Beste, was ich tun konnte«, erklärte Beckenbauer vorige Woche. »Die Nationalelf kann auch ohne mich Weltmeister werden, aber hier in Amerika kann ich helfen, den Fußball an die Spitze zu bringen.« Der scheinbar unscheinbare Typ Beckenbauer, mit dem angeblich für Amerikaner unausprechlichen Namen, ist binnen drei Monaten zum Markenartikel geworden und hat auch gleich zwei aussprechbare Namen: »Franz« und »The Kaiser«. Im deutschfreundlichen Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist er der beliebteste Deutsche. »The Kaiser« ist ein Synonym auch in Schlagzeilen der US-Zeitungen geworden, die vor wenigen Jahren über Soccer allenfalls in Kurzmeldungen berichtet hatten. Sogar die seriöse »New York Times« berichtete über Cosmos und »die Soccer-Sucht« schon auf Seite 1. Und Ex-Außenminister Henry Kissinger suchte Beckenbauer auf, als der nach dem Spiel noch in der Badewanne saß.

»Franz« leuchtet es im Giants Stadium, wo Cosmos (Rekordbesucherzahl: 77 691) spielt, von der elektronischen Anzeigetafel, wenn der Bayer am Ball ist. Schießt er ein Tor, fordert die Leuchtschrift auf der Tafel: »Beifall für diesen Mann«. Oder sie begnügt sich mit einem »Na, war das was« und schließlich ganz kurz: »Wow!«

Wo Pelé und Beckenbauer spielten, verdreifachten sich die Zuschauerzahlen gegenüber der vergangenen Saison. Zum Endspiel in Portland gegen die Seattle Sounders drängten sich fast 36 000 Zuschauer, mehr als im Stadion zugelassen sind. Beckenbauers Equipe siegte 2:1. »Kein gutes Spiel, vor allem von mir nicht«, sagte der Deutsche. »Aber Cosmos würde sich auch in der Bundesliga halten, vor allem auf Rasen.«

Sogar die Spieler der Soccer-Liga wählten den Deutschen zum »US-Fußballer des Jahres«. Pelé, der am 1. Oktober in New York sein Abschiedsspiel gegen seinen alten Verein FC Santos bestreitet, prophezeit: »In der nächsten Saison wird Beckenbauer der Gigant sein.« Beckenbauer über Pelé: »Er ist für mich der größte Sportler aller Zeiten.«

Deutschland ist für Beckenbauer nur noch ein Urlaubsziel. Seinen Wohnsitz hat er in die Schweiz verlegt, nach Sarnen-Bitzighofen, in der Nähe des Vierwaldstätter Sees. Der Weg von Cosmos bis zum Pilatus, dem künftigen Hausberg der Beckenbauers, dürfte jedoch mehr als drei Jahre beanspruchen. »Ich fühle mich in New York so wohl, daß ich gern länger bleiben würde, vielleicht sogar für immer.«

In der Schweiz hat Beckenbauer zunächst einmal eine eigene »Vermögensbildende Gesellschaft« ins eidgenössische Handelsregister eintragen lassen. Diese Firma soll den Namen »Beckenbauer« kommerziell nutzen. »Ich habe in Deutschland alle Steuerschulden bezahlt, ich soll sogar wieder was zurückkriegen«, erklärte er Kritikern.

Ein Jux im ZDF ging daneben. Vor einem Telephon-Interview mit Beckenbauer in New York hatte Moderator Harry Valérien einen Affen auftreten lassen, dem ein witziger Texter kesse Sprüche unterlegte. Als Valérien zum Beckenbauer-Interview überleitete, fragte er den Affen: »Kennst du den Namen überhaupt?« Der Affe: »Ach, der Steuerflüchtling.«

Beckenbauer, in New York schon »auf Sendung«, dachte, daß da ein menschlicher Studiogast seine Meinung kundtat, und schimpfte: »In Deutschland, scheint's, werden die Dummen nie alle.« Inzwischen lacht er über das Mißverständnis, doch die verlassenen Bundesligafans tragen es ihm nach,

Auch das ZDF-Affentheater berührt Beckenbauer nicht mehr. Eher half es ihm bei der Hinwendung zu seinen US-Fans. Beckenbauer: »Jo mei, i bin jetzt a Ami.«

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