Kampfgewicht 43 Kilo
Verblüfft berichteten amerikanische Jockeis mehrmals, daß sie von einem reiterlosen Pferd besiegt worden seien. »Da saß keiner im Sattel von Johnny D., ehrlich«, schilderte Angel Cordero im letzten November nach dem Washington DC International.
Cordero irrte. Im Sattel von Johnny D. hatte sich Steve Cauthen, 17, so tief geduckt, daß auch andere Konkurrenten glaubten, der Jockei sei längst aus dem Sattel gefallen. Was früher Seeleute für den Klabautermann gehalten hatten, wenn schier Unglaubliches geschah, kennen auf New Yorks Rennbahn Aqueduct die meisten Jockeis. »Das ist Stevie«, lachte Ron Turcotte. »Der Knirps kann sich in jeder Pferdemähne verstecken.« Die meisten US-Sportjournalisten wählten den Lehrling 1977 zum »Sportler des Jahres«.
»Das Cauthen-Phänomen«, so Amerikas Fachblatt »Sports Illustrated« wird besonders in den Gehaltslisten deutlich sichtbar, Der Jockeilehrling, 1,55 Meter groß, ritt 1977 den Besitzern seiner Pferde erstmals mehr als fünf Millionen Dollar an Preisgeld binnen einer Saison zusammen. Seit Mai 1976, als der Stift auf »Red Pipe« seinen ersten Sieg errungen hatte, wuchs das Cauthen-Cash auf mehr als sechs Millionen Dollar an. Er selbst kassierte 1977 mehr als eine halbe Million Dollar, soviel wie Tennis-Weltmeister Jimmy Connors. In etwa 3000 Rennen siegte er fast 600mal, ebensooft wurde er Zweiter oder Dritter.
Sein größtes Ziel erreichte er am vorletzten Sonntag: Er gewann in seiner Heimat das Kentucky-Derby. Das brachte dem Besitzer des Pferdes »Affirmed« 293 000 Dollar ein. Für Cauthen fielen 15 Prozent davon ab.
Die schwerste Hürde hatte das New Yorker Jugendamt aufgestellt: Es verweigerte die Arbeitspapiere für den Hufschmiedsohn aus Kentucky. Rechtsanwälte verhalfen dem »Boy, der vom Schaukelpferd direkt aufs Vollblut umstieg«, wie sein erster Trainer Ted Cleveland sagte, zur Lizenz und zu einem Junioren-Führerschein für sein Luxusauto, einen roten Cougar. Vor Anbruch der Dunkelheit muß er den Wagen allerdings abstellen.
Kartenspiel, TV-Krimis und Verfilmungen von Rennstarts bringen Cauthen ("Ich bin eigentlich ein fauler Mensch") in den Schlaf. Zwischen Morgenarbeit auf der Rennbahn -- Beginn: fünf Uhr -- und nachmittäglichem Rennbetrieb fordert Vater Ronald Cauthen noch das Abitur an einer Abendschule.
Schon jetzt hält er außer dem Kassen-Jahresrekord auch einen Rekord an Tagessiegen: sechs Siege an einem Renntag. Neben dem guten Sitz im Sattel und der Fähigkeit, sich bis zur Unsichtbarkeit ducken zu können, verfügt er über die meiste Übersicht im Rennen und viel Gefühl für den Charakter der Pferde. »Am liebsten mag ich bissige und nervöse Pferde«, schildert Cauthen. »Wenn sie erst einmal in vollem Galopp sind, machen sie willig mit.«
Cauthen bringt demnächst ein Buch »The Kid« heraus und kam in in einer »Time«-Titelgeschichte sowie unzähligen TV-Werbespots zur Geltung.
In den USA, wo täglich zwischen der Ost- und Westküste das ganze Jahr über Rennen ausgetragen werden, stockte die Karriere des Zauberlehrlings bisher erst einmal für vier Wochen: Bei einem Sturz brach er sich einen Arm, eine Rippe und drei Finger.
Die Hoffnung mancher Konkurrenten, es könne mehr gebrochen sein, etwa der Mut, trog. Sofort nach der Genesung siegte Cauthen weiter in Serie. Auf der New Yorker Sommer-Rennbahn Belmont hatten die Veranstalter während Cauthens Abwesenheit sofort bemerkt, daß weniger Zuschauer kamen, die Wettumsätze stagnierten.
»Ich merke oft, daß meine Wetter nervöser sind als ich«, sagt Lehrling Cauthen. Hohe Gewinne auf »Kid« sind indes kaum zu erwarten. Ihn wetten die Fans auch dann massenhaft, wenn er Außenseiter reitet. Liegt er im Rennen vorn, lobt der Bahnsprecher: »Der perfekteste Reiter der Welt.« Fällt Cauthen zurück, stichelt er: »Geh nach Hause, Stevie.«
Cauthens Jockei-Rivalen hoffen jetzt auf Gewichtszunahmen des Wunderknaben. Von 50 Kilo Körpergewicht an aufwärts würden sich seine Startgelegenheiten beträchtlich vermindern. Doch sein Kampfgewicht von 43 Kilo hält er schon seit zwei Jahren.