Zur Ausgabe
Artikel 68 / 119

Leichtathletik KATRINS SCHERBEN

Östliches Know-how und westliches Geld sollten den SC Neubrandenburg zu einem Modellklub für das vereinte Deutschland machen und der Weltmeisterin Katrin Krabbe weitere Siege garantieren. Doping stoppte die Läuferin, der Verein geriet an den Rand des Ruins. Er hat sich vom Imageschaden immer noch nicht erholt.
aus DER SPIEGEL 30/1994

Über seine markigen Sprüche von früher kann sich Heiner Jank heute nur noch amüsieren. Ein Jahr nach dem Fall der Mauer hatte der Geschäftsführer des SC Neubrandenburg den Eingangsflur des Klubhauses geschmückt: Von »Weltklasse-Athleten« und »Top-Trainern« kündeten die Parolen, gerade so, als seien die Transparente noch für eine von Erich Honeckers Mai-Paraden bestimmt. Neubrandenburg, stand da auf rotem Untergrund, sei der »erfolgreichste Frauenclub der Welt«.

Jank fühlte sich damals zum schwülstigen Eigenlob durchaus berechtigt. Hatten nicht gerade seine Sportlerinnen aus Mecklenburg bei der Europameisterschaft 1990 in Split sieben Goldmedaillen geholt - und damit mehr als der gesamte westdeutsche Leichtathletik-Verband? Fernsehteams fielen gleich im Dutzend in Neubrandenburg ein, um Katrin Krabbe, die Darling-Deutsche für Ost und West, vor die Kameras zu bekommen. Reporter aus der ganzen Welt suchten vor Ort nach dem Erfolgsgeheimnis des Mecklenburger Laufwunders.

Vom Ambiente aus der Zeit des Ruhms sind nur die obligatorischen Gummibäume in den grob zusammengeleimten Resopal-Blumenkästen geblieben. Der Niedergang, analysiert Jank, 40, nüchtern, sei noch schneller über seinen Klub gekommen als der Aufstieg.

Blond war der vor allem und eilte auf 1,15 Meter langen Beinen über die Tartanbahn. »Königin Katrin«, jauchzte Bild nach Krabbes Weltmeistertitel 1991 über 100 Meter, die blonde Sprinterin war via Fernsehen in jeder deutschen Wohnstube zu Hause. Doch wenig später lästerte die taz über Krabbe als »Deutschlands schnellste Apotheke«.

Katrin Krabbe, kurz nacheinander in zwei Dopingfälle verwickelt und gesperrt, darf bis August 1995 nicht mehr laufen. Sie widmet sich ihrem Sportgeschäft oder tingelt als Show-Gast durch die Provinz. Insgeheim hat sie sogar ganz mit ihrer Sportkarriere abgeschlossen (siehe Gespräch Seite 134). Nur der Klub leidet weiter.

Wie ein Menetekel trägt der SC Neubrandenburg die Dopinglast immer noch mit sich herum. Die übriggebliebenen Athleten und Trainer sehen sich »in Sippenhaft genommen«, wie Kugelstoßcoach Dieter Kollark klagt. Jugendliche, die zu einem Länderkampf nach Mecklenburg gefahren seien, berichtet Jank, hätten laut gerufen: »Wir fahren jetzt in die Doping-Hochburg.«

Geschäftsführer Jank stellt sich vor einem Plakat des Klubsponsors, das eine Läufergruppe unter einer Freiluftdusche zeigt, in Positur. »Der SC Neubrandenburg«, klagt er dann mit Sinn für Symbolik, »steht heute im Regen.«

Noch zur Wendezeit galt der Klub als Modell für das neue Deutschland. Östliches Know-how zur Produktion sportlicher Höchstleistung und westlicher Kapitaleinsatz durch den US-Konzern Nike, so glaubten die Klubmanager damals, könne harmonisch zu »einer Art Eliteverein« zusammengefügt werden.

Die Träume hielten gerade mal ein Jahr. Als die beiden Vorzeigeathletinnen Katrin Krabbe und Grit Breuer erst der Urinpanscherei und später der Einnahme des Kälbermastmittels Clenbuterol verdächtigt wurden, ist der Verein, wie Jank im Mecklenburger Idiom klagt, »fast aufgeplatscht«.

Nike kürzte sein Engagement drastisch, andere Sponsoren sprangen ab. Ein internationales Leichtathletik-Meeting wurde kurzfristig abgesetzt, Trainer und Sportler waren schließlich kaum noch zu bezahlen. Die Modellwerkstatt des Sports hatte noch vor ihrer Fertigstellung ausgedient.

Wenn Jank heute aus dem Fenster seines Büros schaut, wird er stets an die Begeisterung vor vier Jahren erinnert. Wie Mahnsäulen ragen dort die Fundamente des Rohbaus der neuen Leichtathletikhalle aus dem Boden. Stolz fährt Jank mit dem Finger über das Modell der Sportarena, das auf seinem Schreibtisch steht. Und während er auf die 100-Meter-Laufbahn, die 200-Meter-Rundbahn, Krafträume und Mehrzweckhalle zeigt, erzählt er mit Leidenschaft die Geschichte von den verdutzten Bundestagsabgeordneten.

In den Tagen, als Katrin Krabbe noch in den Herzen aller Deutschen Platz hatte, war eine Delegation des Sportausschusses nach Neubrandenburg gereist. Ungläubig hatten die Politiker ihre Köpfe geschüttelt, als sie den umgebauten Kuhstall, in dem Krabbe trainierte, besichtigten. Und als sie sich bei schweißtreibenden Übungen mit alten Hanteln im Kraftraum rostbraune Hände geholt hatten, stand das Steuergeschenk fest: Bonn spendierte 46 Millionen Mark für eine neue Sportanlage. Heute, weiß Jank, würde »eine solche Halle mit Sicherheit nicht mehr genehmigt«.

Dieter Kollark hält das neue Protzstück, das bis 1995 fertiggestellt sein soll, für »eigentlich sinnlos«. Dem Kugelstoßtrainer erscheinen solche Millionen-Investitionen als Ungereimtheiten des neuen Systems, das er nicht versteht. Weil der Staat für teure Sportbauten und Computer reichlich Geld ausgebe, »doch für die Menschen nichts mehr übrig« habe, leide auch der Spitzensport, klagt der Trainer in einer Tonlage, die vielen Enttäuschten aus Ostdeutschland eigen ist.

Kollark, der sich vom Maurer zum Spitzentrainer hocharbeitete, hat mal bessere Zeiten erlebt. 76 Mitarbeiter, davon allein 23 hauptberufliche Leichtathletik-Trainer, hatte einst der SC Neubrandenburg. Als seine Lebensgefährtin Astrid Kumbernuss 1990 Kugelstoß-Europameisterin wurde, bekam Kollark vom Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) prompt eine Zeitanstellung als Bundestrainer.

Der strenge Trainer, der seine früheren Unterrichtsformen selbst für »ein bißchen stalinistisch« hält, konnte sich zwar noch damit abfinden, daß er zunehmend Probleme mit Athleten bekam, die nicht mehr wie gewohnt spuren wollten. Als sich indes »die einst perfekten Laborbedingungen« des SC Neubrandenburg mit Ärzten, Physiotherapeuten und Wissenschaftlern zunehmend verschlechterten und er gleichzeitig die Chance bekam, zusammen mit Astrid Kumbernuss ein Sportgeschäft zu eröffnen, gab Kollark seinen Posten als Bundestrainer auf.

Doch schon bald verwischte sich für Kollark und Kumbernuss, die früher »stolz auf unsere DDR« gewesen waren, das einseitige Bild vom guten Osten und bösen Westen. »Richtig sauer« ist die ehemalige Sportstudentin inzwischen auf Katrin Krabbe, ihre alte Klassenfreundin aus der Kinder- und Jugendsportschule. Nach dem zweiten Dopingfall war Astrid Kumbernuss erst »geschockt«, später nur noch »maßlos enttäuscht«.

Wie andere Trainer und Sportler des SC Neubrandenburg fühlte sie sich von Katrin Krabbe und ihrem Trainer Thomas Springstein hintergangen, habe nun selbst »unter den Dopingvorwürfen zu leiden«. Niemand glaube, klagt Kollark, daß »allein dem Springstein eine Sicherung durchgebrannt ist«.

Lange stand auch die Mecklenburger Bevölkerung in einer Art östlicher Solidargemeinschaft hinter Krabbe. In der PDS-Hochburg Neubrandenburg hatte Springstein leichtes Spiel, die Stimmung zu schüren. Er verbreitete die Mär, böswillige Kräfte aus dem Westen stünden hinter den Dopingprozessen und wollten den Menschen »mit unserer Katrin« auch noch die letzten Reste des DDR-Stolzes nehmen.

Nach dem zweiten Dopingfall aber sei, so erinnert sich Jank, »die Stimmung radikal umgeschlagen«. Der Verein trennte sich deshalb von Springstein und setzte sogar gerichtlich durch, daß Katrin Krabbe vorerst nicht mehr für den Klub starten darf. Aber selbst ein Kinderfest und Briefkastenaktionen lockten die verärgerten Zuschauer nicht ins Stadion zurück.

Auch der Athletenstamm bröckelte weiter. Zur Europameisterschaft fahren höchstens noch fünf Sportler aus Neubrandenburg nach Helsinki, allein Astrid Kumbernuss hat dabei Medaillenchancen. Notgedrungen setzt der einstige Modellklub statt auf Spitzenleistungen heute auf den Breitensport.

Immer nur Doping und damit verbunden die ewigen Lügen - an diesem Thema, sagt Dreispringer Volker Mai, 28, sei der Hochleistungssport in seinem Verein letztlich »zusammengebrochen«. Natürlich, sagt der ehemalige Junioren-Weltrekordler, habe »jeder im Verein gewußt, daß Katrin nicht ohne Doping unter elf Sekunden laufen kann«. Und »natürlich« hätten auch die Mädchen »alles bewußt genommen und von ihrem Trainer immer nur die besten Möglichkeiten gefordert«. Natürlich. Und außerdem: »Steckt nicht in jedem Ossi der Glaube, daß es ohne gar nicht geht?«

Doch was bedeuten die Fragen schon, wo es doch eigentlich um viel Bedeutenderes geht? Volker Mai, der letzte Parteisekretär des SC Neubrandenburg, jetzt Student der Mikrobiologie an der University of Georgia, aber »irgendwie immer noch Kommunist«, bedauert, daß mit dem Niedergang des SC Neubrandenburg auch die »alten Ideale« endgültig untergegangen sind - Solidarität, Gemeinschaftsgefühl, Nähe, kurz ein »tiefgründiges Miteinander«. Überall nur Resignation in Neubrandenburg - dagegen kämpft Geschäftsführer Jank mit Pathos an: »Wir wollen weiterleben.«

Noch aber leiden alle: Thomas Springstein ist seit zwei Jahren arbeitslos, Katrin Krabbe wird nie mehr vor großer Kulisse laufen, und die neue Sportanlage in Neubrandenburg sucht einen neuen Namenspatron - an eine »Katrin-Krabbe-Halle«, wie das 46-Millionen-Projekt ursprünglich heißen sollte, ist nicht mehr gedacht.

»Die Stimmung ist radikal umgeschlagen«

Zur Ausgabe
Artikel 68 / 119
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten