STARS Keine falsche Bewegung
In der 39. Minute - Zidane ist hochaktiv, er vernetzt das schöne Spiel seiner Mannschaft, er stellt den Gegner schlecht - formt sich der Tribünenlärm im Stade de France, 79 000 Menschen, zur anschwellenden Nationalhymne, zur spontanen Marseillaise: »Zu den Waffen, Bürger! Schließt die Reihen! Vorwärts marschieren wir!« Das Lied geht durch die Ränge wie ein schöner Lobgesang.
Frankreich spielt gegen Brasilien, der Weltverband Fifa hat sich den Galaabend in Paris zu seinem 100. Geburtstag geschenkt. Zidane wird, gegen Ende der ersten Halbzeit, vor dem eigenen Strafraum, den Ball einmal im Sprung mit der Brust annehmen und, noch aus der Luft, mit einer perfekt dosierten, schüttelnden Seitwärtsbewegung des rechten Fußes in den Lauf eines Mitspielers abgeben.
Es ist eine kleine, nebensächliche Szene, aber sie erzählt schon sehr viel. Sie erzählt davon, wie Zinedine Zidane dem Fußballspiel laufend neue Möglichkeiten erfindet. Wie er Probleme löst durch Improvisation. Wie er kritische Situationen umpolt zu plötzlicher, befreiender Aktion. Wie er den Gegner ausschaltet durch Anmut und ihn in die Defensive zwingt.
Nach dem Länderspiel, dem 0:0, in den Katakomben des Stade de France, wo in der »Mixed Zone« Journalisten auf Spieler treffen, erlebt Zidane seinen üblichen Auftritt. Er ist, mit Betreten des Raums, auf der Flucht. Er wirkt fast, als hätte er Angst. Als schämte er sich. Als könnte er gar nicht gemeint sein von all diesen Leuten. Er sucht, mit hastigen Blicken, bekannte Gesichter.
Er wird, hinter der Barriere, von allen Seiten angebrüllt. »Zizou!« - »Komm hierher!« - »Nur zwei Fragen!« - »Komm schon!« - »Hey, Zizou!« - »Ein paar Fragen! Bitte!« Die Rufe kommen aus einem 200er-Pulk, in dem japanische Kamerateams rumoren, Reporter aus Holland, Mexiko, Kamerun. Mit Zidane reisen halbe Fußballredaktionen um die Welt, Sonderkorrespondenten aus Spanien, aus England, aus Frankreich. »Zizou!« - »Sag doch was!« - »Was ist los in Madrid?«
Zidane wirkt, aus der Nähe, zierlicher, als man denkt, größer auch, als man es sich ausmalt. Er steht eine Armlänge entfernt und sieht, obwohl tief gebräunt, sehr müde aus und unter der Bräune blass. Wenn er unsicher ist, lächelt er meist. Aber in den vergangenen Wochen hat er nicht einmal mehr das geschafft.
Real Madrid steckt in einer der größten Krisen seiner Geschichte. Die Spiele gehen reihenweise verloren, Namenlose aus Mallorca und Murcia führen »die Galaktischen« vor, ihr letzter Sieg ist Wochen her. Real steht da ohne einen einzigen Titel in dieser Saison, Platz vier in der Liga, das Bernabéu-Stadion, einst eine Festung, ist ein Kartenhaus.
»Zizou! Wie ist die Stimmung bei Real?« Er antwortet, flüsternd: »Gut.« - »Wie? Sie ist gut?« Die Gegenfrage schlägt ihn endgültig in die Flucht. Kein Wort mehr, kein falsches vor allem, keine falsche Bewegung. Raus hier.
Er bückt sich zu seiner Tasche, die ihn aussehen lässt wie einen Freizeitsportler, er wehrt weitere Fragen ab, versucht noch, in verrenkter Höflichkeit, auf neue Rufe irgendwie zu reagieren, nicht abweisend zu wirken, dann senkt er doch den Kopf, ignoriert die Mikrofone, die Diktiergeräte, die Schreie, und verschwindet, schnell. Es ist immer so.
Es gibt zwei Zidanes.
Es gibt den Spieler auf dem Feld, den Souverän, den mutigen Entscheider am Ball, den Welt- und Europameister, den dreifachen Weltfußballer, den Champions-League-Sieger, den Meister Italiens und Spaniens, den Zidane, der jüngst bei einer Uefa-Umfrage zu »Europas bestem Spieler der vergangenen 50 Jahre« gewählt wurde, den Zidane der fünf- bis zehnmal wiederholten Zeitlupe, wenn er wieder, in vollendeter Ballbeherrschung, etwas ganz, ganz anders gemacht hat.
Und es gibt Yazid. Zinedine Yazid Zidane, den jüngsten Sohn algerischer Einwanderer aus dem entlegenen Dorf Taguemoune in der Bergwelt der Kabylei. Den treuen Ehemann von Veronique, den Vater von Enzo, Luca und Theo. Der keine Ferraris fährt, sondern praktische Vans. Der nicht in Villen wohnt, sondern in einer Reihe hübscher, alter Häuschen am Rand von Madrid. Der die Familie über alles stellt. Das ist der Zidane nach dem Schlusspfiff, ein Jedermann mit schütterem Haar und guten Augen. Ein Niemand, fast.
Sein Leben, das sind mindestens diese beiden Geschichten. Ihre Kombination hat ihn zum beliebtesten Franzosen werden lassen. Jährlich findet diese Wahl mit großem Tamtam statt, und in diesem Januar landete er erstmals auf Platz eins. Die Franzosen lieben diesen Weltstar ohne Allüren. Sie verehren das Genie, das nicht über die Stränge schlägt.
Aber trotz solcher Erklärungen bleibt Zidanes Erfolg eine unfassbare Erzählung, und spielte sie nicht in Frankreich, wäre sie die klassische amerikanische Geschichte. Der Roman eines Aufstiegs von weit unten nach ganz oben. Amerikanisch daran ist vor allem, dass hier ein Einwandererkind mit Ehren überschüttet wird. Das war bislang, in Europa, nicht wirklich vorgesehen. Mit Zidane feiert sich Frankreich als offene Gesellschaft, als schöne Republik.
Natürlich beginnt diese Liebesgeschichte vor sechs Jahren, am 12. Juli 1998, als Frankreich und Brasilien um die Weltmeisterschaft spielten und die Blauen, les Bleus, durch zwei Tore von Zidane am Ende strahlend gewannen. Als sich die Mannschaftsaufstellung las wie ein blumiges Gedicht in elf Zeilen. Djorkaeff, Desailly, Karembeu, Thuram, Lizarazu, Barthez.
In jener Nacht wurde Zidane zum Gesicht Frankreichs. Sein Porträt erstrahlte übermenschlich groß von der ganzen Fassade des Arc de Triomphe, überflammt von der Laserschrift »Merci, Zizou«. Die Champs-Elysées waren ein Menschenstrom in Bleu-Blanc-Rouge zu seinen Ehren, das ganze Land verschwand für Tage unter einer Glocke aus Stolz und Rührung, und die patriotischen Gefühle von Millionen reimten sich auf seinen Namen: Zidane.
In jener Nacht wurde er adoptiert als größter Sohn der Nation, die er zum Weltmeister gemacht hatte. Diesen Titel zu erringen, im Fußball, produziert ein kollektives, flirrendes Glücksgefühl, wie es nur wenige gibt, und es teilt sich selbst Menschen mit, die den Sport verachten. Die Weltmeisterschaft zu erringen ist ein Gefühl wie: für alles entschädigt zu werden, alles richtig gemacht zu haben, endlich angekommen zu sein.
Tatsächlich war die Euphorie in Frankreich so überwältigend, dass es für den Vorgang nur einen Vergleich gab: die Befreiung von der deutschen Besatzung 1944. Hervé Gattegno, der ernste Politikchef von Frankreichs großer Tageszeitung »Le Monde«, sagt noch heute, »ohne zu lächeln«, dass der von Zidane besiegelte Triumph im WM-Finale »alles« verändert habe. Dass die Franzosen »niemals seit der Revolution von 1789 so stolz über die Botschaft waren, die sie der Welt schickten«.
Die Botschaft lautete: Frankreich ist noch immer ein Modell, auch in Zeiten der Globalisierung, ist ein funktionierendes, kraftvolles Einwandererland. Auf dem Siegerpodest versöhnten sich die französischen Franzosen mit jenen, die aus Algerien stammten, aus Mali, aus Kamerun. Frankreich vergab sich die Katastrophen der eigenen Kolonialgeschichte, der Sieg wusch das kollektive Gewissen rein.
Fünf Spieler der französischen Weltmeistermannschaft waren Einwandererkinder wie Zidane. Sie führten den sichtbaren Beweis, dass die Ideale der Französischen Revolution im Land ihres Ursprungs intakt waren. Dieses Gefühl wird nie
in Deckung zu bringen sein mit der alltäglichen gesellschaftlichen Realität. Aber die Idee, dass die gemischte Gesellschaft zum Besten aller funktionieren kann und dass Frankreich dieses Beispiel gibt, davon lässt der Fußball die Franzosen träumen.
Wenn die Blauen spielen, in ihrer Mitte Zidane mit der 10 auf dem Rücken, drückt ihnen das ganze Land, Arm und Reich, Schwarz und Weiß, eingewandert und eingeboren, die Daumen. Und gesungen wird der bunten Mannschaft mit frischem Mut die Marseillaise. »Auf, Kinder des Vaterlands! Der Tag des Ruhms ist da!«
Der furchtbare Absturz bei der WM 2002, das trostlose, torlose Ausscheiden, konnte daran nichts ändern. Die Siege von 1998, der anschließende EM-Sieg von 2000 waren zu gut, als dass das ihnen unterliegende Konzept plötzlich falsch sein konnte. Niemand höhnte bei der Rückkehr der Spieler aus Asien. Man trauerte mit ihnen. Und machte sich Mut für morgen.
Es ist ein Zufall, dass im Jahr, in dem Zinedine Zidane geboren wurde, 1972, Jean-Marie Le Pen den Front national gründete. Aber die Gleichzeitigkeit zeigt anschaulich, in welch großen Kraftfeldern sich einer wie Zidane bewegt. In welche Welt er geboren wurde. Und in welcher Welt er heute spielt.
Er wurde einmal, von Le Pen, der sich mit den Seinen noch immer für die kickende »Negertruppe« in Frankreichs Farben schämt, ausdrücklich vom Hass ausgenommen als ein »Sohn Französisch-Algeriens«. Und dieses eine Mal schwieg Zidane nicht, sondern machte den Mund auf. Er spiele, sagte er, »ganz sicher nicht für Le Pen«. Es war eine der längsten politischen Reden, die er in seinem Leben gehalten hat.
Dieses Leben beginnt im Betongrau der Marseiller Vorstadt La Castellane, einem Labyrinth aus billigen Plattenbauten, es beginnt auf dem Platz »de la Tartane«, 150 Männerschritte lang, 30 breit, um den die Hochhäuser stehen wie steile Tribünen.
Hier spielte Zidane, als er noch Yazid war und noch nicht Zizou. Die Familie wohnte Hausnummer 7, später im Chemin de Bernex 28 an der nördlichen Stirnseite des Platzes. Wo sie lebten, stecken heute verrutschte Schilder im Klingelbrett, Jimenez, Aquem, Santiago. Vor der Tür, auf der dem Platz abgewandten Seite, geht der Blick hinunter zum Meer, wo sich Industrie- und Hafenanlagen in die Küste gefressen haben, Schiffe stampfen durch den Golf von Marseille, sie kommen aus Algier, sie gehen nach Abidjan.
Wo Zidane groß wurde, ist Afrika keine ferne Idee, sondern tägliche Begegnung. Er wurde einmal mit dem Satz zitiert, ihm sei in seiner Kindheit nie Rassismus begegnet, weil sowieso alle Ausländer waren. Das klingt nicht nach ihm, aber es stimmt trotzdem. Seine Freunde wurden Malik, Nasser, Ahmed gerufen, und so heißen die Kinder von La Castellane, auf dem Platz de la Tartane, noch heute.
Zinedine, Yazid, wurde groß auf engstem Raum. Sie waren sieben in vier kleinen Zimmern. Smail, der Vater, Nachtwächter in einem Supermarkt, Mitte der sechziger Jahre eingewandert, zuerst nach Paris, nach Saint-Denis. Malika, die Mutter. Lila, die Schwester. Die Brüder Nordine, Farid, Djamel.
Diese Familie, deren Alltag Arbeit war und gemeinsames abendliches Fernsehen, gab Zidane Kraft und Ruhe. Er selbst sagt das so. Er spricht bewundernd von seinem Vater, der ihn alles Wichtige gelehrt habe. Vor allem, dass man es mit Arbeit, Ernst und Demut zu einem ordentlichen Leben bringen kann. Dass man anständig sein und bleiben muss.
Auf Fotos sieht Smail Zidane, der Vater, meistens traurig aus. Ein Mann mit billiger Brille und im Gesicht versteckten Augen, von der Nachtarbeit gezeichnet, grau. Freunde der Familie beschreiben ihn als guten Patriarchen, als strengen, gerechten Vater, als gläubigen Muslim, der alle fünf Gebete des Tages seit je verrichtet.
Ein einfacher Mann, ein typischer Zuwanderer der ersten Generation. Einer, der sich immer halb als Gast fühlt und nur halb als Bürger. Der keinen Ärger haben will. Und keinen Ärger machen. Das war, im Hause Zidane, das Gesetz.
Die Eltern spürten bald, dass in Yazid ein Feuer brannte. Dass der Junge, noch schweißnass vom Judotraining, schon wieder Bällen hinterherjagte. Dass er über dem Fußball zu essen vergaß, dass er spielte, rannte, trickste, unerschöpflich, fieberhaft. Dass er eine Entschlossenheit hatte, die zu groß war für sein Alter.
Sein erster Club hieß US Saint-Henri, ein Nachbarschaftsverein, sein zweiter wurde Sports Olympiques de Septèmes am äußersten nördlichen Stadtrand von Marseille. Heute wie damals spielt man dort auf einem rötlichen Schotterplatz an der alten Autobahn Richtung Aix-en-Provence, Avenue du 8 Mai 1945.
Heute wie damals liegt das Spielfeld umgeben von Pinien und Kalkfelsen, und das Vereinsheim ist eine Bretterbude, von der die Farbe platzt. Es ist die Welt der Ehrenamtlichen, der väterlichen Fahrdienste zu Auswärtsspielen, die Welt der Mütter, die Trikots und Stutzen waschen und Kuchen backen für das Sportfest. Hier wurde Zidane Mitglied des Französischen Fußballverbands, Nummer 60447413.
Sein eigentliches Trainingsgelände aber blieb der Platz de la Tartane. Und wirklich hilft dieses Spielfeld den heutigen Spieler Zidane zu erklären. Es ist ein rutschiger
Untergrund. Rötliche Steinplatten, mit Schmutz überpudert, ein Boden, der den geringsten Fehler bestraft. Wer hier gewinnen will, muss Bälle kontrollieren können.
Freunde von damals erzählen, dass er sich schlug für den Sieg. Dass er erst nach Hause gehen wollte, bis er, bis seine Mannschaft gewonnen hatte. Dass er die Regeln änderte, um die Spiele zu verlängern, dass er wütend diskutierte, um weiterspielen zu können, immer weiter, bis zum Erfolg.
In La Castellane liegen heute an den Nachmittagen immer noch die kleinen Echos aufspringender Bälle in der Luft. Auf dem Platz balgen sich Kinder in wirbelnden Trauben beim Spiel und verzetteln sich schnell in Schlägereien. Nichts hat sich geändert, seit Zidane hier Kind war.
Der harte Marktplatz zieht sich entlang einer schäbigen Ladenzeile unter Betonkolonnaden, die es immer schon gab. Hier, zwischen der Fleischerei ganz vorn und einer mit Windeln bis unter die Decke voll gestapelten Drogerie, lernte Zidane, sich schnell und genau zu bewegen. Und er lernte, den sozialen Abgrund zu meiden, an dem dieses Viertel steht. La Castellane ist ein Ort, wo die Mädchen zu früh zu viele Kinder bekommen und die Jungs zu früh keine Arbeit mehr finden. Es ist sehr weit von hier bis in die Glitzerwelt von Madrid.
Es ist schon weit bis hinunter nach Marseille, ins Zentrum um den alten Hafen, und noch weiter zum Stade Vélodrome, Boulevard Michelet, wo Olympique Marseille zu Hause ist. Das Kind Zidane machte sich oft auf den Weg. Bewunderte schüchtern die Großen. Wagte noch nicht davon zu träumen, selbst einer zu werden. Schaute auf, vor allem zu einem: Enzo Francescoli, dem lässigen Stürmer aus Uruguay, der außerhalb des Stadions hinter seiner Bescheidenheit fast verschwand.
Heute ist Zidane selbst das Idol seines Viertels und seiner Stadt Marseille. In La Castellane sagen die Halbstarken in rotzigem Ton, Zidane habe gezeigt, »dass wir hier nicht alle nur die letzte Scheiße sind«. Und drunten an der Corniche, wo sich die Ausläufer der Innenstadt spitz ins Mittelmeer schieben, schaut ein gewaltiges Porträt Zidanes von einer Hausfassade.
Zwölf mal sieben Meter groß ist das Bild, schräg steht darauf, wie gestempelt: »Made in Marseille«. Der Blick des Übermenschen auf Papier geht zum Meer, zu den Stränden, in deren Sand sich Yazid die Füße blutig spielte. Es war eine ärmliche, glückliche Zeit, ohne Mixed Zones, ohne Journalistenpulks, ohne Ruhm. Cannes war weit. Bordeaux war weit. Turin noch weiter. Madrid völlig aus der Welt.
Zidanes Entdecker, Jean Varraud, wohnt in Cannes direkt am alten Fußballstadion. Er ist ein Greis, 84 schon, aber mit irritierend jungen Augen. Er empfängt in einem weißen Hausmantel und könnte selbst der Held einer guten Geschichte sein. Seine Frau hatte eine Boutique direkt an der Croisette und empfing zu Festspielzeiten die Schönen einer versunkenen Welt, Rita Hayworth, Josephine Baker, Lauren Bacall, sie kamen zur Anprobe der neuen Kreationen von Yves Saint-Laurent.
Varraud hatte jahrzehntelang selbst ein Kino, das »Vox«, aber eigentlich interessierte er sich zeitlebens nur für den Fußball. In den dreißiger Jahren spielte er bei Saint-Etienne im Sturm, in den Vierzigern kam er nach Cannes, er spielte auch dort ein paar Jahre und ließ es dann irgendwann sein, weil seine Knie schmerzten.
Er hat die Geschichte von sich und Zidane schon viele Male erzählt. Seine Großtat für den Fußball ist in Frankreich Gemeingut. Jean Varraud war Talentsucher des AS Cannes, er fuhr auf den Dörfern herum in einem weißen Citroën, hielt nach Begabungen Ausschau, und eines Tages fuhr er zum Trainingslager der Mittelmeer-Schülerauswahl in Aix-en-Provence.
Es waren die Weihnachtsferien. Zidane, Yazid, war damals 14, deutlich größer als die meisten gleichaltrigen Jungs, er hatte abstehende Ohren, und der Auswahltrainer schrieb in seine Beurteilung: »Enttäuschend, angesichts seiner Qualitäten«. Varraud sah besser mit seinen jungen, schnellen Augen. Er sah schon das ganze Bild.
Er sah einen Jugendspieler, wie er nie zuvor einen gesehen hatte, einen Kerl, »dessen Füße mit dem Ball sprachen«. Varraud hebt sich in seinem Sessel, er spricht feierlich und so, als wären die Szenen eben erst passiert. Er zeigt mit den Händen, mit verschlungenen Gesten, was der junge Zidane aufführte, er mokiert sich über sein miserables Kopfballspiel damals. »Er duckte sich, wenn der Ball kam. Der Kerl zog den Kopf ein, Sie glauben das nicht!«
Varraud hat eine Schublade voller Autogramme seines Stars. Über ein Bild, das sie beide zeigt, Arm in Arm, hat Zidane geschrieben: »Für Monsieur Varraud, all meine Freundschaft für einen Menschen, der mir sehr teuer ist.« Monsieur Varraud brachte Zidane auf die Fußballschule des AS Cannes.
Er beschreibt ihn als schüchternes Kind, freundlich, blass und heimwehkrank. Der kleine Zidane war das erste Mal von zu Hause weg. Er wurde, auf Drängen der Eltern, bei einer Gastfamilie untergebracht, bald, vom 15. Lebensjahr an, wohnte er in Zimmer 207 des regionalen Internats für Berufsschüler, Tür an Tür mit künftigen Bäckern, Tischlern, Friseuren.
Wenn er heute, auf dem Hochplateau seines Ruhms, häufig mit dem Bild eines
Mönchs in Verbindung gebracht wird, so ist daran viel mehr wahr, als man ahnt. In jenen Jahren in Cannes, als Fußball-Novize, zwischen 1987 und 1990, lebte er wirklich wie im Kloster. Isoliert von den Freunden, fern von der Familie, fand er sich zurückgeworfen auf die Arbeit, auf den Dienst an seiner Religion Fußball.
Und er arbeitete hart, das ist, neben aller Begabung, sein eigentliches Geheimnis geblieben. Alle Trainer, die ihn im Team hatten, schwärmen von seiner Disziplin, seinem fanatischen Willen, sich stetig zu verbessern. Als er nach Cannes kam, hatte er, wie man so sagt, keinen linken Fuß. Und er spielte, als Kicker von der Straße, nie mit dem Kopf. Er hat sich diese Mängel, in quälender Kleinarbeit, aberzogen.
Hat Tausende Bälle gegen Mauern geschossen, mit links, mit links, mit links, sprang tausendmal zu Bällen hoch, die an Basketballkörben baumelten. Natürlich haben sich viele Fußballer zu allen Zeiten derart geschunden. Aber hier feilte ein Genie an sich.
Etwas in diesem Menschen, damals halb Kind, halb Mann, muss immer gewusst haben, zu welchen Taten er geboren war. Sein Biss ist anders nicht zu erklären.
Dieser unbedingte Wille gab ihm auch ein, gegen seine Wutausbrüche anzukämpfen. Gegen die Gefahr roter Karten. Wirklich putzte er, auf den Rat eines Trainers, um Demut zu lernen, die Kabinen, die Duschen, die Flure des Jugendheims. Das hat ihn nicht wirklich von allen cholerischen Ausbrüchen geheilt. Aber wer weiß, wo er heute ohne diese Therapie stünde. »Er wurde nicht als der große Zidane geboren«, sagt Varraud, »er hat sich selbst dazu gemacht.«
Es ist von hier, von Cannes aus, bis zu seinem ersten Spiel in der französischen Nationalmannschaft noch weit, aber der Weg ist vorgezeichnet. Zidane rückte auf, als 17-Jähriger, in die erste Mannschaft des AS Cannes. Am 8. Februar 1991 schoss er gegen Nantes sein erstes Erstliga-Tor und bekam als Prämie einen roten Renault Clio.
Ein Jahr darauf wechselte er vom Absteiger Cannes für 500 000 Euro Ablösegeld und 6000 Euro Monatsgehalt zu Girondins Bordeaux. Hier, von 1992 an, machten die Franzosen Bekanntschaft mit dem Namen Zidane. Hier wurde er Zizou.
Und bald, zwei Jahre später, wussten alle, dass sie sich diesen Namen merken müssen. Am 17. August 1994 spielte Zidane zum ersten Mal für Frankreich. Als er eingewechselt wurde, in der 63. Minute, gegen Tschechien, stand es 0:2 gegen die Blauen. Am Ende stand es 2:2, und beide Male hatte Zidane getroffen. Einmal mit dem linken Fuß. Einmal mit dem Kopf. Er schrie das ins Telefon, spätnachts, ins Ohr seines Mentors Jean Varraud: »Ich hab getroffen! Mit links! Und mit dem Kopf! Haben Sie das gesehen?«
Der Nationaltrainer hieß damals schon Aimé Jacquet. Er hat Zidanes weiteren Aufstieg erlebt, den Sprung von Bordeaux zu Juventus Turin, die harten Jahre dort, 70 Spiele pro Jahr, internationale Wettbewerbe, Dauerkämpfe um die italienische Meisterschaft. In Turin wurde Zidane zur internationalen Größe. Mit Turin verlor er zweimal das Champions-League-Finale. In Turin wurde er der Spieler, für den Real Madrid 71,6 Millionen Euro bezahlte.
Aimé Jacquet sitzt in einem Dienstbotenzimmer im kleinen Schloss von Clairefontaine bei Paris, der nationalen Fußballschule Frankreichs, das Zimmer ist sein Büro. Er hat nach dem WM-Sieg den Chefposten hier übernommen. Er kann über Zidane reden wie ein Verliebter.
Seine Anwesenheit allein löse schon viele Probleme, sagt Jacquet. »Das Spiel beruhigt sich, wenn er in der Nähe ist. Alle fühlen sich sicher, freier, fähiger.« Das ist eine sehr gute Beschreibung. Zidane lässt seine Mitspieler durch seine Qualität eigene, neue Qualitäten entdecken. »Und dann schauen Sie«, ruft Jacquet begeistert, »ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie er sich manchmal zum Verschwinden bringt? Wie er den anderen immer wieder signalisiert, dass er nicht unersetzlich ist? Das ist es! Er führt das Spiel, indem er ihm dient.«
Vielleicht gibt es doch nicht zwei Zidanes. Nicht Zidane, den Großen auf dem Feld, und Yazid, den Kleinen außerhalb. Vielleicht macht auch auf dem Feld Yazid das eigentliche Geheimnis aus. Weil sich Zidane nicht aufdrängt als Führer, sondern immer nur anbietet als die beste Option. Weil er nicht Feldherr ist, sondern lediglich schnellste Schaltstelle. Vielleicht liegt in der Bescheidenheit, auch auf dem Platz, sein eigentliches Genie. Zinedine Yazid Zidane - ein kompletter Mensch und Spieler.
Nie dribbelt er überheblich, um Zirkuskünste sinnlos zu zelebrieren. All seine Kunst untersteht dem Zweck des Spiels, dem einzigen Ziel des Fußballs, immer zieht Zidane zum Tor. Immer findet er neue Wege dorthin.
Seine Aktionen lassen ganze Stadien stillstehen. Wenn er dem Spiel eben wieder eine ungeahnte Facette gibt, kann es geschehen, dass für Sekundenbruchteile aller Lärm erstirbt. In Madrid, Santiago Bernabéu, verschlägt es oft 75 000 Menschen hörbar den Atem, wenn Zinedine Zidane den Ball bewegt, darin liegt eine Feierlichkeit, die frösteln macht. In Frankreich wird es bald wieder Millionen so ergehen. Wenn die Blauen zur Europameisterschaft in Portugal auflaufen und sich die Nation zu Hause um den Fernseher schart. Das Land wird stillstehen, immer wieder. Für Bruchteile schöner Sekunden.