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WELTREKORD Keusch bleiben und treten

aus DER SPIEGEL 48/1961

Fünfmal mußte er auf den Operationstisch. Vierzehn Tage lang schien es den Chirurgen höchst ungewiß, ob er weiterleben könne. Als er endlich das Krankenhaus verließ, besaß er kein bewegliches Gut außer einer Flasche Lebertran und einer Dose mit Weizenkeimen. Seine Versicherung hatte sich geweigert, ihn für die Brüche an Schädel und Rippen zu entschädigen, die er sich bei einem Geschwindigkeits-Weltrekordversuch mit dem Fahrrad zugezogen hatte.

Derselbe Mann, der heute 48jährige Rennfahrer, Schriftsteller und Nelkenzüchter Jose Meiffret aus Nizza, fuhr am vorletzten Montag - neun Jahre nach seinem schlimmen Sturz - auf einer 1000 Meter langen Meßstrecke der Autobahn bei Lahr in Baden mit einem Spezial-Rennrad die neue Radfahrer -Weltbestleistung von 178,926 Stundenkilometer - etwa das Höchsttempo eines gut eingefahrenen Porsche-Sportwagens vom Typ »Super 75«.

»Die sportliche Höchstleistung«, schrieb der Züricher »Sport« über den schon mehrfach schwerverunglückten Meiffret, »ist seine Religion, der er alles zu opfern bereit ist: Vergnügungen, Liebe, ja sogar das Leben.« Breite, sich bis zur Kuppe seines Schädels hinziehende Narben bezeugen, wie intensiv sich der nunmehr betagte Renner aus Nizza seit über zehn Jahren immer wieder bemüht hat, den Geschwindigkeits -Weltrekord zu Rade zu verbessern.

Meiffret, ein Freund Jean Cocteaus, verfuhr dabei nach eigenen Rezepten, die er in dem von ihm verfaßten »Brevier des radsportlichen Champions« veröffentlicht hat. »Schlafe nie auf der linken Seite«, empfiehlt Meiffret etwa aus seinem Erfahrungsschatz.

Der Autor verdammt kalte Bäder während der. Wettkampfsaison und ermahnt jeden angehenden Champion: »Trinke nicht, rauche nicht, bleibekeusch in vernünftigem Rahmen, wenn du es nicht ganz sein kannst.« Als Ersatz für mancherlei Verzicht rät Meiffret an: »Du sollst bis zum Ende deiner Karriere nur eine Liebe haben: das Fahrrad.«

Voller Liebe zum Stahlroß wurde Meiffret trotz zahlreicher Mißerfolge niemals müde, eine Rekordmarke anzugreifen, die ihm seit 1951 (175,609 Stundenkilometer) ohnehin schon gehörte. Finanziell unterstützt durch eine Öl -Gesellschaft, eine Apéritif-Herstellerfirma und eine Sturzhelm-Fabrik, verblüffte Meiffret die Radsportkritiker durch die Akkuratesse, mit der er seine Rekordversuche vorbereitete, und durch die Findigkeit, mit der er die technischen Probleme bewältigte, die derart hohen Fahrradgeschwindigkeiten entgegenstehen:

- Meiffret benutzt ein selbstkonstruiertes Fahrrad-Monstrum mit so ungewöhnlich großem Übersetzungsverhältnis, daß dem riesigen Pedal -Kettenrad nur wenige Zentimeter Bodenfreiheit bleiben; außerdem

- fährt der Rad -Champion im Windschatten eines Renn- oder Sportautomobils, mit dessen Hilfe er den

Luftwiderstand fast völlig ausschaltet.

Während zum Beispiel ein normales Rennfahrrad (Laufraddurchmesser: 68,6 Zentimeter) am sogenannten Kettenrad

(Pedalrad) 51 Zähne und am Zahnkranz des Hinterrads 16 Zähne aufweist, verwendete Meiffret bei seiner jüngsten Rekordfahrt auf der badischen Autobahn eine Übersetzung von 172:17, die ihm ermöglichte, pro Kettenradumdrehung über 20 Meter voranzukommen. Zum Vergleich: Das normale Rennrad mit der Übersetzung. 51:16 schafft nur knapp sieben Meter.

Da es übermenschliche Kräfte erfordert, die riesige Übersetzung überhaupt anzukurbeln, lies sich Meiffret bei seinen Rekordversuchen hinter Automobilen zunächst über etwa drei Kilometer von einem Motorrad anschleppen, bevor er in einem riskanten Manöver hinter den Windschirm des Autos scherte, einen am Heck des Fahrzeugs montierten senkrechten Schild

Meiffret, der dem Autofahrer per Mikrophon Anweisungen geben kann, muß auch bei Höchsttempo mit dem Schleppwagen gleichsam auf Tuchfühlung bleiben. Falls er aus dem Schutzbereich des Windschirms gerät, wird er - wie bei dem Rekordversuch 1952 - durch den plötzlich aufprallenden Fahrtwind unweigerlich zu Sturz kommen.

Eine in Höhe der Fahrrad-Vorderachse am Auto befestigte Schutzrolle soll verhindern, daß Meiffrets Vorderrad bei einem Auflaufen auf das Auto blockiert wird. Wie wichtig diese Schutzvorrichtung ist, zeigte sich unlängst, als an einem 300 PS leistenden französischen Vorkriegs-Rennwagen vom Fabrikat Talbot, den Meiffret als Schrittmacher verwendete, die Kurbelwelle brach: Der Radler prallte gegen das Auto. Durch solche Erfahrung gewarnt, vertraute sich Meiffret bei seiner erfolgreichen Rekordfahrt den Schlepperdiensten eines modernen Mercedes -Sportwagens vom Typ »300 SL« an.

Die Gefahren der Rekordversuche haben Meiffret, der seine Sporthose mit einem aufgenähten Totenschädel verziert hat, schon seit mehr als zehn Jahren jegliche Konkurrenz vom Halse gehalten, aber auch 1961 dazu geführt, daß ihm die französischen Behörden Rekordfahrten innerhalb Frankreichs untersagten. So kam es, daß der schnellste Radfahrer der Welt seine neueste und - innerhalb der letzten zehn Jahre - endlich erfolgreiche Strampeltortur auf deutschem Autobahnbeton abhielt.

Freilich: Meiffret ist keineswegs mit den dabei erreichten 178,926 Stundenkilometern zufrieden. Sein Ziel war und ist, 200 Stundenkilometer zu erreichen - ungeachtet der Tatsache, daß der »Internationale Radsportverband« absolute Geschwindigkeits-Weltrekorde überhaupt nicht anerkennt.

Radrennfahrer Meiffret bei der Rekordfahrt: Mit 172 Zähnen ...

... so schnell wie ein Porsche

Meiffret

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