Tour de France über Kopfsteinpflaster Zu Staub sollt ihr werden

Radprofis in der Staubwolke von Nordfrankreich
Foto: Thibault Camus / APDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Das Desaster von Jumbo-Visma: Das stärkste Team im Feld – den Ruf, den der niederländische Rennstall Jumbo-Visma hat, war bei dieser Tour de France nach vier Etappen bislang eindrucksvoll bestätigt worden. Wout van Aert trug das Gelbe Trikot des Führenden, der Belgier hat eine Etappe und drei zweite Plätze belegt. Die bärenstarken Teamkapitäne Primož Roglič und Jonas Vingegaard schielten auf das Gesamtklassement und hofften darauf, bei dieser fünften Etappe richtig anzugreifen. Es kam völlig anders – und Jumbo-Visma wurde der ganz große Verlierer des Tages.
Sieger des Tages: Gleich nach dem Start der Etappe von Lille nach Arenberg hatten sich fünf Fahrer abgesetzt, sie trotzten allen Herausforderungen der gefürchteten Kopfsteinpflaster-Passagen und blieben bis zum Ende vorne. Aber gewinnen kann am Ende eben nur einer: Der Australier Simon Clarke rang in einem beeindruckenden Schlusssprint den Niederländer Taco van der Hoorn nieder. Es war der Schlusspunkt einer aufregenden Etappe mit ständigen Wendungen, deren Verlauf man hier detailliert nachlesen kann.
A close one 👀
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Une victoire à la photo-finish 👀#TDF2022 | @TISSOT pic.twitter.com/7klXn83DYu
Die Hölle des Nordens: Diesen Beinamen hat die Region ursprünglich nach den fürchterlichen Verwüstungen des 1. Weltkriegs erhalten. Er gilt heute aber auch dem Kopfsteinpflaster, normalerweise der Schauplatz der Radsportdramen des Klassikers Paris-Roubaix. Teile der Strecke fanden sich in der heutigen Etappe wieder, insgesamt 19,4 der 153 Kilometer wurden auf diesem Untergrund, den berüchtigten Pavés, gefahren. Die befürchtete Rutschpartie blieb zwar aus, weil es zum Segen für die Fahrer nicht regnete. Dafür bewegten sie sich in einer gewaltigen Staubwolke, während sie von den Pflastersteinen durchgerüttelt wurden.
Land und Leute: Die Hölle des Nordens, das ist eben nicht nur der Radsport, das ist die Geschichte. Die Kohlezechen brachten der Gegend im 19. Jahrhundert zwar ihren Wohlstand, aber die Arbeitsbedingungen waren brutal. Der Film »Germinal« mit Gérard Depardieu erzählt davon, Teile des Films wurden hier gedreht. Die Zeit der Zechen ist längst vorbei, die Region ist wieder arm, die Arbeitslosigkeit hoch.
🏁 🇺🇸@NPowless mit dem ersten Antritt, am Ende entscheidet es sich zwischen 🇳🇱@TacovanderHoorn und 🇦🇺@SimoClarke.
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⏪ Der letzte km einer spektakulären Etappe. #TDF2022 pic.twitter.com/OQ2iN5kBqS
Stürze, Stürze, Stürze, und immer wieder ein Team: So ein Pech hat man selten. Es gab zahlreiche Stürze und Defekte, und fast immer war ein Fahrer von Jumbo-Visma prominent betroffen. Wout van Aert verkeilte sich schon vor den Kopfsteinpflasterpassagen im Rad seines Teamkollegen Steven Kruijswijk und knallte auf den Asphalt. Ein paar Minuten wäre er fast noch mit einem Mannschaftswagen kollidiert. Die meisten hatten van Aert vor der Etappe zum Favoriten des Tages erklärt, das hatte sich damit erledigt.
🤍 @TamauPogi und 🇧🇪 @Jasperstuyven haben ihre Mitfahrer angehängt. #TDF2022 pic.twitter.com/3DR3qCOlq1
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Und noch mehr Jumbo-Visma-Pech: Danach erwischte es beide Topfahrer des Teams. Erst erlitt der Däne Jonas Vingegaard einen Defekt, er tauschte zwar schnell das Rad mit einem Teamkollegen, das jedoch viel zu groß für ihn war. Er musste daher auf den Teamwagen warten und verlor wertvolle Zeit. Fast gleichzeitig hatte auch Roglič Probleme nach einem Sturz. Panik im Team, man wusste gar nicht, wo man zuerst reagieren sollte. Und ein anderer nutzte das eiskalt aus.

Alle quälen sich, nur der Titelverteidiger fährt links seinen ganz eigenen Stil
Foto: PAPON BERNARD / POOL / EPADer Überflieger: Tadej Pogačar war schon vor dieser Tour der geborene Topfavorit. Im Berg kaum schlagbar, beim Zeitfahren stark verbessert. Wenn es eine Chance gab, ihn in Bedrängnis zu bringen, dann wohl auf Kopfsteinpflaster. Von wegen: Während die Konkurrenz hinten ihre Probleme zu lösen hatte, drehte Pogačar in der Verfolgung der Spitzengruppe richtig auf, knallte mit fast 50 km/h über die Kopfsteinpflaster-Passagen, der Slowene schien teilweise über die Pavés zu fliegen, als wäre das gar nichts. Eine Demonstration seiner Macht, es war, als wolle er seinen Rivalen zurufen: Zu Staub sollt ihr werden!
Aus deutscher Sicht: Eigentlich eine Etappe für die Deutschen, mit Max Walscheid, Maximilian Schachmann und Nils Politt hatte man genug ambitionierte Eintages-Spezialisten im Feld. Nach John Degenkolb, dem Sieger von Paris-Roubaix 2015, ist sogar eine der Pavés benannt. Schachmann und Politt mischten lange vorne mit, hatten dann aber mit der Entscheidung nichts mehr zu tun. Walscheid stürzte früh, und für Degenkolb war es wohl ein wenig zu warm und zu trocken. Er liebt es schließlich, wenn es so richtig unangenehm nass und rutschig wird.
Der Kraftakt: Dass Jumbo-Visma am Ende des Tages doch noch etwas zu feiern hatte, lag an van Aert. Der Belgier rollte nach seinem Sturz erst mal das Feld von hinten auf, dann klemmte er sich mannschaftsdienlich in die Arbeit, um seinen Kapitän Vingegaard wieder einigermaßen nach vorne zu führen. Und am Ende hatte er damit sogar seine Gesamtführung um wenige Sekunden gerettet. Roglič dagegen hat jetzt schon mehr als zwei Minuten Rückstand auf seinen Landsmann Pogačar. Wo nur soll er das aufholen? Zumal er sich bei dem Sturz die Schulter ausgekugelt hatte: »Ich konnte sie nicht gleich wieder einrenken, also musste ich mich auf den Stuhl eines Zuschauers setzen. Ich habe da eine spezielle Technik und so habe ich sie wieder eingerenkt«, sagte er nachher. Ein typischer Radsport-Tag für ihn.
Der Ausblick: Erholung kann man vergessen. Am Donnerstag geht es über 220 Kilometer von Binche nach Longwy, eine hügelige Strecke, ständig geht es rauf und runter, es ist zudem die längste Etappe der ganzen Tour. Und übermorgen wartet mit der superschweren Etappe durch die Vogesen nach La Super Planche des Belles Filles die erste Bergankunft. Die Wette, dass Pogacar danach das Gelbe Trikot tragen wird, gilt.