Lernen und laufen
Vor einem Jahr wollte der Kenia-Läufer Kipwambok Weltrekord laufen. Aber kein Veranstalter kannte Kipwambok und riskierte die erforderlichen Spesen. In diesem Jahr jagen sie sich den Kenianer sogar mit Morddrohungen ab.
Kipwambok kennt allerdings trotz vier Weltrekorden noch immer so gut wie keiner. In stiller Übereinkunft führen ihn Europäer und Amerikaner unter seinem einprägsameren Vornamen Henry Rono.
Zwischen April und Juni stürzte Rono (deutsch: »Die Zeit, wenn die Ziegen heimgetrieben werden") die Weltrekorde über 3000, 5000 und 10 000 Meter. Im 3000-Meter-Hindernislauf löschte er den letzten klassischen Lauf-Weltrekord eines weißen Läufers. Bei den Panafrikanischen Spielen in Algier startete und siegte er in zwei Rennen (10 000 und 3000 Meter Hindernis).
Nur zwei legendäre Athleten, Paavo Nurmi aus Finnland und der Amerikaner Jesse Owens, hatten es fertiggebracht, drei Weltrekorde in olympischen Disziplinen gleichzeitig zu behaupten, freilich gegen schwächere Konkurrenz. Auf Ronos Leistungen »sollten Kenia und ganz Afrika stolz sein«, forderte Isajah Kiplagat, der Sekretär des kenianischen Leichtathletik-Verbandes.
Auch Ronos Weg in die Leichtathletik-Geschichte führte über Amerika. Nach den Olympischen Spielen 1972 hatten US-Universitäten erstmals erfolgreiche Läufer aus dem Hochland von Kenia für ihre Wettkampfmannschaften abgeworben. Im privaten Hochschulsystem der USA wecken auch sportliche Siege, Rekorde und Meisterschaften die Spendenlust wohlhabender Mäzene, ohne die Universitäten auf die Dauer nicht existieren können.
Vor allem abgelegene Hochschulen, teils mit unzureichenden Wettkampfanlagen, von denen kein US-Star ein Stipendium nimmt, warben um genügsame Afrikaner. So nahmen 1972 drei Kenianer, der Langstreckler Philip Ndoo sowie Julius Sang und Robert Ouko aus der Goldmedaillen-Staffel (4 X 400 Meter), Studium und Training in Pullman im US-Staat Washington im äußersten Nordwesten der USA auf. Die Universität Portales in New Mexico heuerte den Mittelstreckler Mike Boit an.
»Ein Studium in den USA ist für uns die ganz große Chance«, erkannte Ndoo. 1975 schlossen die ersten drei Kenianer ihr Studium ab. Ndoo wurde in Nairobi Sportchef der »Daily Nation«, Sang und Ouko erlangten Offiziersrang.
Boit arbeitet inzwischen an der renommierten Stanford-Universität in Kalifornien an einer sportwissenschaftlichen Dissertation. Kenias ersten Sportwissenschaftler erwartet in Nairobi eine Staatsstellung als Hochschullehrer.
Unter Kenias Athleten sprachen sich die Karriere-Chancen herum. Aber auch die US-Universitäten lernten die zuverlässigen Afrikaner schätzen. »Die Ausländer sind besonders motiviert«, weiß Boit, »beim Laufen und Lernen.«
Enttäuscht über den Boykott der Olympischen Spiele 1976, den Afrikas Politiker aus Protest gegen Südafrikas Rassismus befohlen hatten, schwappte eine Welle von ungefähr 50 Kenianern an amerikanische Universitäten. Unter ihnen befand sich auch der spätere 10 000-Meter-Weltrekordler Samson Kimobwa, den Rono dann ablöste.
Afrikanische Studenten, schrieb Boit in einer Studie, »sind weniger anspruchsvoll«. Sie »starten für ihre Universität auch in mehreren Rennen« an einem Tag.
Allerdings kritisierten US-Funktionäre schon die Überfremdung. Zuerst hätten farbige Landsleute die weißen Amerikaner aus den Hürden- und Sprintwettbewerben verdrängt, nun fänden weiße US-Läufer auch auf den Mittel- und Langstrecken kaum noch Möglichkeiten zur Entfaltung. Tatsächlich siegten Kenianer bei den US-Studenten-Meisterschaften 1978 schon auf drei Laufstrecken.
Einige US-Trainer glauben hingegen, so Boit, daß »ihre Athleten den erfolgreichen Ausländern etwas abgucken können; das heißt nicht, daß wir von den Amerikanern nichts lernen«. Doch bis sie sich genügend angepaßt haben, benötigen die Afrikaner, die aus Dörfern im kenianischen Hochland ohne Leitungswasser und Elektrizität kommen, gewöhnlich ein Jahr.
Als er das erstemal vor einer Rolltreppe gestanden habe, beschrieb Boit, »beobachtete ich die Leute minutenlang, wie sie es anstellten, aufzusteigen«. Rono klagte: »Die ersten Wochen verstehst du mit deinem Suaheli-Englisch kein Wort.«
In seinem Dorf, 2100 Meter hoch bei Kapsabet, hatte Rono seine Hütte noch selbst gebaut und »nicht nach Plan, sondern mit Phantasie trainiert«. Von seinem Wehrsold sparte er Geld für zweieinhalb Hektar Land, auf dem seine Mutter und vier Geschwister Tee anbauen. Als ihm ein US-Stipendium angeboten wurde, desertierte er und begann Wirtschaftspsychologie zu studieren mit dem Ziel, Lehrer zu werden. Die fällige Gefängnisstrafe erließ ihm die Regierung inzwischen.
Rono lief täglich bis zu 30 Kilometer, zweimal wöchentlich sogar 7,2 Kilometer in den Snake River Canyon hinunter und wieder herauf. Trotzdem ließ er sich von einem Sportguru einreden, er wiege zuviel, und aß nur noch einmal am Tag. Er brach zusammen und verbrachte vier Wochen im Krankenhaus
Insgeheim nennen Rono und seine Landsleute noch einen Vorteil des US-Aufenthalts: die Distanz zu selbstsüchtigen Funktionärs-Landsleuten und die Möglichkeit, selbständig Starts in Europa abzuschließen.