LETTLAND Märchen im Kahnland
Der Strand von Liepaja ist so etwas wie die Copacabana der untergegangenen Sowjetunion. Ein 30 Meter breiter Sandgürtel, gegen den sanft die Brandung anrollt. Unweit der Dünen stehen Eisentore zum Bolzen. Maris Verpakovskis, 24, hat hier mit dem Fußball begonnen. Lange bevor er im November 2003 das entscheidende Tor in der EM-Relegation gegen den WM-Dritten Türkei schoss. Und so zum Hauptdarsteller der bisher glorreichsten Episode in Lettlands Fußballgeschichte wurde.
In der Daugavas Ulica 3 ist Verpakovskis aufgewachsen. Zu einer Zeit, da Liepaja noch Stützpunkt der sowjetischen Kriegsmarine war, eine verbotene Stadt für Ausländer. Allabendlich wurde der Strand geharkt und ab 22 Uhr gesperrt - zur Abschreckung möglicher Republikflüchtlinge.
Verpakovskis' Vater war 1992 gegen Rumänien als Mittelfeldmann dabei, im ersten Länderspiel der jungen baltischen Republik nach dem Ende der Sowjetunion. Später hat er mit dem Sohn beim FK Liepaja in einem Team gespielt. Maris holte die Elfmeter heraus, Papa verwandelte sie.
Verpakovskis senior formt inzwischen auf dem Vereinsgelände hinter dem Strand aus Talenten Nationalspieler. Der Junior wechselte 2001 zum Serienmeister Skonto Riga. Im Herbst 2003 hat er dann Lettland fast im Alleingang zur EM-Endrunde nach Portugal geschossen, mit zwei Toren beim Triumph in der Relegation über die hoch favorisierte Türkei.
Danach war es für den heimatverbundenen Stürmer erst einmal vorbei mit der Ostsee-Idylle. Angebote von Bayern und Arsenal wurden kolportiert, Olympiakos Piräus bot ernsthaft. Verpakovskis lunchte mit dem Ölmilliardär und FC-Chelsea-Besitzer Roman Abramowitsch in London und entschied sich schließlich - für Dynamo Kiew, den Serienmeister der Ukraine.
Für einen Stammplatz also, statt für die Reservebank, sagt er, für ein Land auch, in dem er die Sprache verstehe, und für einen Verein, der praktisch jedes Jahr in der Champions League spiele.
Einen Fünfjahresvertrag hat Verpakovskis in Kiew unterschrieben, die Ablösesumme soll 3,5 Millionen Euro betragen haben. Und wenn der Lette mit den nass gegelten Haaren jetzt zu Länderspielen heim nach Riga kommt, hat er die Presse am Hals. Zum Sportler des Jahres und Mann des Jahres 2003 haben sie ihn gewählt. Die Staatspräsidentin höchstselbst entschloss sich, ihn zu küssen, nach dem Erfolg über die Türken. Nur ihn.
Der schmächtige Verpakovskis trägt neuerdings beim Training schwarze Balken unter den Augen, eine Art Kriegsbemalung, die er sich vom türkischen Torwart Reçber Rüstü abgeschaut hat, und versucht ansonsten, normal zu bleiben. Für herausragende Verdienste hat ihm der Bürgermeister seiner Heimatstadt Liepaja aus der Gemeindeschatulle 1000 Lats schenken lassen, etwa 1500 Euro. Der Bürgermeister ist Maris' angehender Schwiegervater.
Die Prämie entspricht in etwa dem Wochenlohn eines Superstars in Lettlands höchster Spielklasse. Acht Mannschaften stehen sich dort Jahr für Jahr gegenüber, und am Ende gewinnt Skonto Riga. Zwölfmal war das bisher so, in den zwölf Jahren seit der lettischen Unabhängigkeit. Skonto Riga wird vom Nationaltrainer Aleksandrs Starkovs trainiert und vom Verbandspräsidenten Guntis Indriksons geführt.
Starkovs ist optisch ein Wiedergänger des »Güntzi« Bosch der frühen Wimbledon-Jahre, und auch handwerklich eher ein Sportlehrer biederer Prägung. Er schätzt zwei tief gestaffelte Viererketten hinter schnellen Spitzen und appelliert ansonsten an das patriotische Feuer seiner bunt gemischten Truppe.
Zwar ist die Trainings- und Umgangssprache Russisch, und von den zwölf Legionären spielt die Hälfte in Russland und der Ukraine. Aber bevor sie die lettische Hymne hören, setzt es auf Russisch einen vaterländischen Appell von Aleksandr Starkovs. Es gehe hier um »die Ehre der Fahne«, um den Stolz, die junge Republik Lettland vertreten zu dürfen, samt ihres Drittels russischer Bevölkerung.
Die Dimension des lettischen Fußballmärchens wird klar, wenn Verbandspräsident Guntis Indriksons in der Loge des Skonto- und National-Stadions, das ihm gehört, vom steinigen Weg zum Erfolg spricht. In seinem Rücken blinzeln Lokalgrößen über Cognac-Schwenkern, auf den Rängen sitzen 250 Besucher, und auf dem Rasen stöpselt Skonto Riga im Spitzenspiel ein 1:0 gegen Liepaja zusammen.
Indriksons schaut grimmig drein, holt am Handy Informationen über die Leistungen lettischer Legionäre bei Southampton, Admira Wacker Mödling und Viborg FF ein und sagt, bis zu zwei Millionen Dollar jährlich stecke er in sein Hobby. Er hat Stadion und Hallen bauen lassen, Trainingsgelände und Fußballschulen. Die fünf Millionen Euro für die EM-Teilnahme in
Portugal hätte der Verband gern vorab kassiert, um laufende Kosten bestreiten zu können. Doch die Uefa hat das abgelehnt.
Wer in einer Lage ist wie Lettland nach der Abspaltung von der Moskauer Zentrale, und wer dann einen findet mit einem Herz für den Fußball und mit Geld in den Taschen, der darf wohl nicht wählerisch sein. Indriksons hat nie verheimlicht, Mitarbeiter der Fünften Hauptverwaltung des KGB gewesen zu sein, jener für Dissidentenverfolgung zuständigen, beim Volk besonders verhassten Spitzeltruppe. Nur den Vorwurf, mit Geheimdienstgeld seine Firmengruppe gegründet zu haben, hat der ehemalige KGB-Offizier dementiert.
KGB-Schnüffler, Bolschewiki, Zaren, Nazi-Größen und Deutschordensritter - stets vollzog sich die Geschichte der Letten im Spannungsfeld zwischen den Nachbarn Deutschland und Russland, ein beinahe ununterbrochenes Erlebnis der Fremdherrschaft. Noch heute, hinter der heiteren Fassade der Fußballeuphorie, schimmern die Spuren von gestern durch. Beim Trainingsgelände der Nationalelf im Rigaer Mezaparks, ehemals Kaiserwald, wo die Straßenbahnlinie 11 endet, war bis 1944 ein KZ für Juden auf dem Weg ins Vernichtungslager.
Auch in den Libauer Dünen, beim Stadion, in dem Maris Verpakovskis groß wurde, sind Jüdinnen erschossen worden. Und ganz in der Nähe ist im Dezember 1943 ein Schiff ausgelaufen, auf dem deutsche Zivilisten aus Kurland vor der näher rückenden Roten Armee flüchteten.
Mit an Bord: Paul Kahn, hoher Beamter des Reichskommissariats Ostland und Inhaber des Reisebüros Baltischer Lloyd am Libauer Rosenplatz 11, seine Schwiegertochter mit ihrem nur wenige Tage alten Sohn - Rolf Kahn, später Profi des Karlsruher SC und Vater von Oliver Kahn.
»Kani. No Liepajas lidz Karlsruei«, so steht es 60 Jahre später in der Lokalzeitung »Kurländer Wort« - wie es die Kahns von Liepaja nach Karlsruhe verschlug. Und dass »der beste Torwart der Welt« um ein Haar »ein lettischer Bursche« geworden wäre. Olivers Opa, der einst einen lettischen Pass besaß und dann Angestellter der deutschen Kriegsmarine in Liepaja war, hat den Kontakt zu seiner Heimat vor der EM-Auslosung wieder aufgenommen.
In fließendem, wenn auch nicht fehlerfreiem Lettisch schreibt er dem Bürgermeister von Liepaja, Oliver Kahns Vater habe zumindest noch auf Lettisch sagen können: »Du bekommst was auf den Hintern.« Klein-Oliver hingegen habe leider immer nur »minimales Interesse« an Lettland und dem entsprechenden Teil der Familiengeschichte gezeigt.
Quasi als Entschädigung schickt der nichts ahnende Opa Autogrammkarten und Zeitungsausschnitte von Olli Kahn an den künftigen Schwiegervater von Lettlands Star Verpakovskis, und fügt, die Nationalhymne seiner alten Heimat zitierend, den Wunsch an: »Gott segne Lettland.«
Vielleicht werden die frommen Wünsche ja wahr, anders als von Großvater Kahn gedacht. Vielleicht kommt es ja am Samstag beim Spiel zwischen Deutschland und Lettland zu einer Fortsetzung des Fußballmärchens vom Ostseestrand.
»Wenn ich an Deutschland denke, denke ich an Kahn«, sagt der kleine Maris Verpakovskis schon jetzt. Anlass zur Ehrfurcht bestehe nicht, fügt Lettlands Trainer hinzu: »Wenn es im Fußball nur nach Größe ginge, wäre China Dauer-Weltmeister.«