Mal parterre
Montags gehören die Bundesligastars dem Mannschaftsarzt. Bis zum nächsten Sonnabend müssen sie wieder fit. sein -- notfalls mit schmerzstillenden Spritzen.
Am vorletzten Sonnabend trat der Dortmunder Borusse Amand Theis dem Schalker Mittelstürmer Klaus Fischer im Abstiegskampf gegen den Kopf -- ungestraft. Der Schiedsrichter hätte die Heimmannschaft wohl erst durch einen Platzverweis dezimiert, vermutete Foulopfer Fischer, »wenn mein Kopf weggeflogen wäre«. Mit einem Mullturban hielt er durch.
Nach Spielende brach er zusammen. »Es geht um Leben und Tod«, trieb Dortmunds Liga-Obmann Reinhold Wosab die Sanitäter an. Den Sonntag verbrachte Fischer im Krankenhaus. Dienstags trainierte er wieder.
Schalke droht der Abstieg, und Fischer ist nicht gleichwertig zu ersetzen, zumal der Arzt schon Stammspieler Herbert Lütkebohmert ein Spielverbot auferlegt hatte. Schalkes National-Rechtsaußen Rüdiger Abramczik erlaubten schmerzstillende Spritzen, trotz einer Leistenzerrung durchzuhalten. Dabei war die Saison 29 Spieltage ungewöhnlich friedlich verlaufen. Die Schiedsrichter hatten bis dahin weniger Elfmeter und Platzverweise verhängt, als es dem Schnitt der voraufgegangenen Jahre. entsprach. Dann spitzte sieh die Tabellenlage zu. Drei Mannschaften kämpften noch um den Titel, sechs weitere um die Spielberechtigung im millionenträchtigen UEFA-Cup; mindestens fünf bangten in der Abstiegszone um ihre finanzielle Existenz.
»Je größer die Bedeutsamkeit eines Spiels ist und je mehr der dadurch bedingte Leistungsanreiz zu Anstrengung und körperlichem Einsatz führt«, ermittelte der Tübinger Sportpsychologe Helmut Gabler in einer Untersuchung ("Aggressive Handlungen im Sport"), desto eher träten »nicht nur regelabweichende, sondern auch normabweichende Handlungen« -- Roheit -- auf.
Spannung in der Bundesliga drückt sich auch in Brutalität und splitternden Knochen aus. Die meisten Fouls geschehen gegen Ende eines Spiels. Ebenso häufen sich die Regelverstöße' wenn die Saison-Entscheidungen anstehen.
An den zwei letzten Spieltagen zückten die Unparteiischen 44 gelbe Karten. An einem Tag diktierten sie acht Elfmeter (von insgesamt 81) -- ein Rekord. In Kaiserslautern, als der 1. FC um die Titelchance und die Gäste aus Bielefeld gegen den Abstieg kämpften, verglich Nationalspieler Hannes Bongartz den Schiedsrichter mit einer Verkehrsampel; »Der hat nur noch Gelb und Rot gezeigt.«
Innerhalb von fünf Minuten schickte der Mann in Trauerschwarz drei Profis
* Mit Kopfverband in Dortmund gegen Borussia (l.): mit Kopfverband in Duisburg gegen Dortmund (o.).
vorzeitig unter die Dusche, darunter auch Kaiserslauterns Nationalstürmer Klaus Toppmöller. Dann verpatzte Kaiserslautern zwei Elfmeter, verlor sein Heimspiel -- das erste der Saison -- gegen Mönchengladbach 1:3, die Titelchance war endgültig dahin.
An 29 Spieltagen hatten nur sieben Bundesliga-Spieler Rot und die Kabine vorzeitig gesehen; nun flogen in zwei Runden fünf vom Platz: Auch die Kölner Nationalspieler Herbert Neumann und Heinz Flohe drehten durch. Der Deutsche Meister kam deshalb um die Möglichkeit, wenigstens einen internationalen Wettbewerb zu erreichen. Ohne zusätzliche Einnahmen aus dem UEFA-Cup ist die kostspielige Mannschaft (monatlich rund 750 000 Mark) kaum zu unterhalten.
Unter dem Stress des Siegenmüssens verkrampfen viele Spieler auch psychisch: So führten die acht Strafstöße eines Spieltages nur zu fünf Treffern, und auch Altnationalspieler Georg Volkert vom Meisterschafts-Anwärter VfB Stuttgart versagte erstmals als Elfmeter-Schütze. Sogar Schalke-Trainer Gyula Lorant durchbrach das Normverhalten und lief Amok gegen einen TV-Toningenieur.
Wer von den Spielern im entscheidenden Augenblick Fuß oder Kopf einzieht, steht vor Trainer, Mitspieler und Fans fast als Saboteur da. »Dann mußte schon mal jemand parterre schicken«, belehrte Dortmunds Altnationalspieler Siegfried Held, 36, einige Schalker, die sich über zuviel Härte beschwert hatten.
Kaum ein Schiedsrichter schützt die am meisten gefährdeten Spieler und schon gar nicht im gegnerischen Stadion. So kamen in kaum einer Bundesliga-Mannschaft die wichtigsten Spieler unverletzt davon. Den Kölnern fehlte ihr Torjäger Dieter Müller, die Frankfurter Eintracht mußte ohne ihre Weltmeister Jürgen Grabowski und Bernd Hölzenbein auskommen.
Wo markige Worte und schmerzlindernde Spritzen noch halfen, blieben Bundesliga-Invaliden sogar am Ball. »Ein richtiger Profi«, erwartet Rudi Assauer, der Manager Werder Bremens, »spielt schon mal mit angeknackster Rippe weiter.« Stuttgarts Mittelstürmer Dieter Hoeneß tat's im Kampf um den Titel wirklich -- und mutete sich zusätzlich sein erstes Länderspiel (gegen Irland) zu.
Mindestens ein Dutzend weiterer Stammspieler wie die Nationalspieler Bernhard Dietz, Rolf Rüssmann und Manfred Kaltz hielten trotz Verletzungen durch. Borussia Mönchengladbach reaktivierte im Abstiegskampf sogar Weltmeister Berti Vogts' der nach einem komplizierten Beinbruch schon aufgehört hatte. Er verhalf seinem Klub sogar zum Sieg im UEFA-Cup gegen »Roter Stern« Belgrad.
»Selbst angesichts gesundheitlicher Warnzeichen«, schrieb der frühere Ruder-Olympiasieger und Karlsruher Philosophie-Professor Dr. Hans Lenk, werde ein Athlet »nur höchst widerwillig auf den Start bei Meisterschaftstreffen verzichten
Gewöhnlich nötigt keineswegs der Klubarzt dem Athleten die Spritze auf. Die meisten betroffenen Kicker verlangen danach -- sei es aus Loyalität zu Mannschaft und Klub oder im Gedanken an Prämien für die Meisterschaft (VfB Stuttgart: 25 000 Mark) oder die Vermeidung des Abstiegs.
Da mochten auch Schalker Fans wider den Abstieg auf letzte Nothilfe nicht verzichten: Kürzlich organisierten sie den ersten Bittgottesdienst für ihren Verein.