Marathon-Debütant Richard Ringer »Das fühlt sich fast wie Spazierengehen an«

Von der Bahn auf die Straße: Richard Ringer will im Marathon angreifen
Foto: Michael Kappeler / picture alliance / dpaWenn am Sonntag in Valencia der Startschuss beim Marathon ertönt, dann rennt Richard Ringer um die Olympia-Norm. Unter 2:11:30 Stunden will der deutsche Profi bei dem Rennen laufen, das im Corona-Jahr eine der wenigen Möglichkeiten ist, sich für die verschobenen Sommerspiele in Tokio zu qualifizieren.
Für Ringer, 31 Jahre, ist Valencia der Beginn eines neuen Kapitels. Eigentlich kommt er von der 5000-Meter-Distanz, 2016 gewann Ringer in Amsterdam EM-Bronze über jene Distanz, auf der er sich noch zu Beginn dieses Jahres für Tokio qualifizieren wollte. Doch dann kam Corona, die Sommerspiele mussten auf das nächste Jahr verschoben werden – und Ringer wagte den Wechsel zum Marathon. Seit August trainiert er dafür intensiv.

Richard Ringer, 31 Jahre, ist ein deutscher Leichtathlet. Bisher war Ringer vor allem auf Strecken zwischen 3000 und 5000 Metern (Bestleistung hier: 13:10,94 Minuten, 2015) sowie im Crosslauf aktiv. Sein größter Erfolg ist EM-Bronze 2016 auf 5000 Metern. Seit August trainiert er für einen Start beim Marathon, in Valencia am 6. Dezember will er direkt die Olympia-Norm von 2:11:30 Stunden knacken. Neben dem Sport arbeitet Ringer seit 2013 als Controller.
Keine Entscheidung aus Langeweile im Corona-Jahr, sagt Ringer dem SPIEGEL. Der Schritt sei ohnehin geplant gewesen, wurde aber wegen der Tokio-Verlegung vorgezogen, außerdem habe er noch etwas länger eine Verletzung auskurieren können.
SPIEGEL: Herr Ringer, wie fühlt es sich an, sich als Läufer neu zu erfinden?
Ringer: Im Oberschenkel teilweise schmerzhaft. Die 5000 Meter auf der Bahn bin ich vor allem auf dem Vorfuß gelaufen, die Belastung geht besonders in die Wadenmuskulatur. Beim Training für den Marathon bin ich auf der Straße unterwegs und ich laufe eher über den Mittelfuß. Diese Umstellung funktioniert nicht von heute auf morgen und zu Beginn meines neuen Trainings im August hat sie sich besonders mit Oberschenkelschmerzen bemerkbar gemacht.
SPIEGEL: Kürzerer Lauf an der obersten Belastungsgrenze oder langer Lauf bei weniger Belastung – sind die 5000 Meter oder ein Marathon härter?
Ringer: Noch bin ich die 42,2 Kilometer ja nicht komplett gelaufen. Ich bin ein Anfänger auf dieser Distanz, selbst im Training haben wir noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Es gibt allerdings Unterschiede, die schon im Training deutlich werden: Bei den viel höheren Geschwindigkeiten auf kurzen Strecken bildet man mehr Laktat und man hat weniger Sauerstoff im Körper. Es gibt schnell einen Mangel, und die Folge ist meist Erschöpfung und eine ziemlich harte Muskulatur am nächsten Tag. Beim Marathontraining stellt sich nach harten Einheiten auch Ermüdung ein, aber für mich kann es schneller wieder weitergehen. Ich fühle mich gerade ziemlich wohl.

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Foto: Laci Perenyi / imago images/Laci PerenyiSPIEGEL: Viele Amateure laufen im Training viel zu viele schnelle Einheiten und sind dann beim Wettkampf platt. Man muss sich in der Vorbereitung bremsen können. Fällt Ihnen das als Läufer von einer schnellen Distanz besonders schwer?
Ringer: Ich weiß durch die 5000 Meter ziemlich gut, was mit dem Körper passiert, wenn man zu hohes Tempo läuft – drückt man nicht auch mal auf die Bremse, dann schießt man sich ab. Deswegen genieße ich gerade das Marathontraining so sehr, weil man auch ruhigere Wochen mit nicht so hohen Belastungen hat. Jetzt gibt es auch mal langsame Einheiten, da laufe ich den Kilometer in nur 4:15 Minuten. Das fühlt sich dann fast wie Spazierengehen an.
SPIEGEL: Jeder Hobbyläufer dürfte jetzt kurz geschluckt haben. Aber Sie sind Profi, also, wovor hat der Berufssportler beim Marathon Respekt?
Ringer: Zum Beispiel die Länge des Rennens ist tückisch. Vielleicht läufst du bis Kilometer 30 ein perfektes Rennen, aber dann geht es beim Marathon erst richtig los. Dann kann noch alles passieren. Vielleicht stürzt man, auf einen Wetterwechsel hast du keinen Einfluss, vielleicht läuft an der Verpflegungsstation nicht alles wie geplant ab oder man verträgt einen Energieriegel nicht so gut. Ich will mich mit diesen negativen Gedanken aber nicht zu sehr beschäftigten. Viel davon kann man im Training ausprobieren – etwa, wie man eine Wasserflasche im Lauftempo von 20 km/h greift.
SPIEGEL: Der Marathon-Superstar und Weltrekordler Eliud Kipchoge war wie Sie einst auf der 5000-Meter-Distanz aktiv; 2008 gewann er Olympia-Silber. Muss man seine Karriere auf diesen kürzeren Distanzen begonnen haben, um später im Marathon erfolgreich zu werden?
Ringer: Früher war das häufiger so, da hat man sich auf der Bahn seine Schnelligkeit aufgebaut und ist mit 30 Jahren zum Marathon gewechselt. Aber jetzt dreht sich die Entwicklung: Die Straße ist finanziell deutlich lukrativer als die Bahn. Es gibt viele Wettkämpfe, bei denen man Preisgelder gewinnen kann, und der Zugang ist wesentlich leichter – man kann sich ja einfach für einen Marathon anmelden. Deswegen sehen wir heute viel mehr 20-Jährige, die für Marathon trainieren und ihn auch gewinnen. Diese Läufer haben schon sehr früh eine enorme Ausdauer, aber eher nicht die Grundschnelligkeit eines Bahnläufers.

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Foto: Tilo Wiedensohler / imago images / Camera 4SPIEGEL: Ihr Trainer ist Wolfgang Heinig, bald 70 Jahre, ein Routinier im deutschen Laufsport. Andere Athleten zieht es inzwischen ins Ausland in Laufgruppen oder sie setzen auf deutlich jüngere Fachleute als Coach. Warum machen Sie das nicht auch?
Ringer: Ein Auslandswechsel hätte nicht zu meiner Familienplanung gepasst, und ein jüngerer Coach besitzt nicht die Erfahrung. Ich weiß nicht, ob ich auf den gehört hätte. Ich bin 31, habe mich lange Zeit selbst trainiert und weiß viel über meinen Sport. Jetzt wollte ich jemanden, der noch mehr weiß: Wolfgang Heinig hat einen enormen Erfahrungsschatz und immer wieder Athleten in die Weltspitze geführt, und er strahlt Autorität aus. Aber wir können auch Differenzen haben und keiner ist beleidigt.
SPIEGEL: Zuletzt sind reihenweise Weltrekorde auf der Straße geknackt worden – gleichzeitig wird über Laufschuhe mit Carbon-Technologie diskutiert, die die Athleten:innen bei ihren Rekordläufen auch schneller gemacht haben. Sind Bestmarken heute weniger wert, weil die Ausstattung besser geworden ist?
Ringer: Da kommen mehrere Komponenten zusammen. In diesem Jahr gab es kaum Wettbewerbe. Viele Athleten haben nur für ein einziges Rennen trainiert, in das sie dann alles reingehauen haben. Ein anderer Punkt sind die Strecken: Früher gab es mehr wellige Straßenläufe, bei denen du noch richtig Höhenmeter einsammeln musstest, das ist anstrengend, die machen dich langsamer. Heute ist es fast egal, wo du hinkommst – die Straßen sind glatt. Zuletzt war ich in Dresden bei einem Halbmarathon, der war komplett eben, da musst du gar nicht nachdenken. Das macht richtig viel aus bei der Zeit.
SPIEGEL: Aber Carbon unterstützt schon. Sie laufen auch mit einem entsprechenden Schuh.
Ringer: Ja, der Schuh macht dich schneller, bis zu zwei bis drei Sekunden pro Kilometer. Auf einer Marathondistanz macht das viel aus. Aber es ist nicht so, dass man in den Schuh schlüpft und auf einmal ist man schneller. Man muss mit ihm länger trainieren, seinen Laufstil möglicherweise anpassen und auch damit zurechtkommen, dass die Muskeln anders belastet werden.
SPIEGEL: Selbst, wenn Sie nun in Valencia die Olympia-Norm erfüllen und für Tokio vom deutschen Verband nominiert werden – bis zur Weltspitze würden Ihnen einige Minuten fehlen. Die Besten laufen im Marathon fast neun Minuten schneller. Ist das nicht zermürbend?
Ringer: Da müssen wir jetzt unterscheiden. Bei Rekordversuchen geht es nur um die Zeit, da gibt es Tempomacher, und alles ist auf eine Bestzeit ausgelegt. Aber bei internationalen Wettkämpfen wie den Olympischen Spielen gibt es keine Pacemaker, oft finden die Läufe bei enormer Hitze statt, die Strecken sind nicht ideal. Jeder ist auf sich allein gestellt, niemand läuft dort die 42 Kilometer in knapp zwei Stunden, die Gewinnerzeiten liegen eher bei 2:08 Stunden. Beim Marathon kann gerade bei Olympia einfach viel mehr passieren als auf der Bahn über 5000 Meter. Deswegen finde ich den Olympia-Marathon auch so reizvoll, und wenn ich dabei wäre, würde ich auch auf eine gute Platzierung hoffen.
SPIEGEL: Sie wirken so entspannt, dabei sind Sie noch ein Marathon-Rookie. Woher kommt diese Zuversicht?
Ringer: Laufen ist meine absolute Leidenschaft, ich trainiere für mich und will jetzt einfach mal herausfinden, wie weit ich es im Marathon bringen kann. Wenn es nicht so klappt wie erhofft, dann ist das so, aber niemand kann mir da Druck machen, ich mache mir keinen Stress. Ich kann auch noch immer zurück zu den 5000 Metern.
SPIEGEL: Manche trainieren gut und kommen dann mit dem Druck um einen Wettkampf nicht zurecht. Wie ist das bei Ihnen?
Ringer: Wenn ich bei Wettkämpfen das Nationaltrikot anziehe, freue ich mich, dass ich dabei sein und mein Land vertreten kann. Ich denke mir dann, super, ich starte jetzt, was für ein Privileg, gerade in Corona-Zeiten. Aber ich denke nicht darüber nach, dass ich das Land irgendwie voranbringen muss, dass das jetzt von mir abhängt. Ich habe inzwischen auch die Erfahrung und bin gelassener, ich muss mich einfach nicht mehr so viel mit mir selbst beschäftigen. Ich probiere inzwischen eher, auch mal jungen Athleten gut zuzureden und sie zu unterstützen. Laufen macht auch so viel Spaß, weil der Zusammenhalt unter den Athleten sehr groß ist.