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FUSSBALL Maschine gegen Magier

Die Lokalrivalen AC und Inter Mailand versuchen den Fußballclub der Zukunft zu entwickeln. Welches Konzept gewinnt? Der AC Mailand zähmt Nationalspieler wie Christian Ziege durch eiserne Disziplin, Inter unterwirft sich dem brasilianischen Superstar Ronaldo.
aus DER SPIEGEL 50/1997

Schon am ersten Tag ging es Christian Ziege in der edlen Kaserne ziemlich beschissen. Mit wem konnte er reden, welche Uniform war bei welchem Anlaß die richtige, wann war auf welchem der vielen Plätze Training? Fehler verzeiht sein Club nicht, denn der AC Mailand, das begriff Ziege sofort, ist eine Armee, und »jeder Spieler ist brutal austauschbar«. Mittags hockte der deutsche Nationalspieler dann auf seinem Zimmer im schnieken Trainingszentrum Milanello, und er fürchtete: »Das überstehe ich nicht.«

Ronaldo Luiz Nazario da Lima erlebte den ersten Tag in Appiano Gentile wie die eigene Himmelfahrt. Der Trainer fragte ihn, wann er zu trainieren wünsche, Mitspieler ersuchten um Autogramme für ihre Kinder, und hundert Journalisten streckten ihre Finger aus, um ihn zu berühren. Inter Mailand, meint Ronaldo, »ist zu Großem berufen«. Denn Inter Mailand besteht im wesentlichen aus dem Fußballprofi Ronaldo, und der, schreibt »Le Monde«, ist ein »Gott für das kommende Jahrzehnt«.

Und so führen die Mailänder Fußballclubs AC und Inter in ihren 15 Kilometer voneinander entfernten Trainingszentren zwei Experimente durch, die dasselbe Ziel haben. Das Problem lautet: Wie formt man nach dem Bosman-Urteil, welches die Ablösesummen bei Vertragsende abschaffte und damit im Milliardenspiel Profifußball die Spieler mächtig und die Vereine hilflos machte, die perfekte Mannschaft?

Eine mögliche Antwort lautet: indem man zwei Dutzend der besten Spieler versammelt, die sich gegenseitig im Konkurrenzkampf zermürben, und dieser Gruppe einen gnadenlosen Trainer wie Fabio Capello überstellt, der auch ein Straflager befehligen könnte. So versucht der AC Mailand, der vor der laufenden Saison für 14 neue Spieler, darunter Ziege, über 50 Millionen Mark ausgab, wieder zur weltbesten Vereinsmannschaft zu werden.

Die richtige Antwort könnte aber ebenso heißen: indem man den vermeintlich besten Fußballer der Welt einkauft und fürs Organisatorische einen namenlosen Trainer dazu, indem man also alle Macht abgibt und die übrigen Spieler nur anweist, den Ball irgendwie dem Superstar zu apportieren. Das probiert Inter Mailand, das rund 60 Millionen Mark für die Verpflichtung des Brasilianers Ronaldo ausgab.

Das Duell der Rivalen aus Mailand steht damit exemplarisch für jene Suche nach dem richtigen Weg, mit der sich im Moment Vereine in ganz Europa quälen. Zugleich ist es die private Schlacht zweier ehrenwerter Herren, die in Norditalien um Respekt ringen. Ihr Einsatz ist irrwitzig: Die Associazione Calcio Milan von Silvio Berlusconi machte in der vergangenen Saison 45 Millionen Mark Minus; der Konkurrent FC Internazionale Milano von Massimo Moratti verlor 21 Millionen. Für Berlusconi, 61, ist der Neuanfang des AC Mailand so etwas wie der letzte Versuch.

1986 hatte sich der Mann, der mit Immobilien, TV-Sendern und Zeitungen reich geworden war, den damals fast bankrotten Club einverleibt. Er gliederte ihn in seinen Konzern Fininvest ein und konnte nun seine Fernsehstationen mit der exklusiven Ware Fußball versorgen. Jener AC Mailand, der Ende der Achtziger um die drei Holländer Ruud Gullit, Marco van Basten und Frank Rijkaard aufgebaut worden war, war wohl die beste Clubmannschaft aller Zeiten.

Weil in Italien Fußball die gleiche Bedeutung hat wie in Amerika das Filmgeschäft, ging der mit Milan populär gewordene Berlusconi, eine Art italienischer Ronald Reagan, 1993 in die Politik. Und weil der Fußballclub so bekannt war »wie Mafia und Pizza« (Berlusconi), weil sich Zentralen der Fan-Clubs schnell zu Büros der Partei Forza Italia machen ließen, wurde der Patron prompt Ministerpräsident.

Dann aber kamen Prozesse wegen des Verdachts auf Korruption und Bilanzfälschung und am vergangenen Mittwoch die erste Verurteilung zu 16 Monaten Haft, die ihm das Gericht allerdings erließ. Der Selbstdarsteller Berlusconi ist ein Mann geworden, der vor den Kameras der eigenen Sender schwitzt und stottert. Und das alte, seelenlose Milan war die Lachnummer der letzten Saison.

Darum soll Fabio Capello, 51, Milan neu errichten. Der Trainer, den sie in der Macho-Welt Fußball »uomo di ferro«, Mann aus Eisen, nennen, redet und lacht nicht gern; er ist ein Signore von besonderem Charme. Wenn er den Platz betritt, schneuzt sich Capello in die Hand, die er dann in der Manteltasche reinigt. Gratuliert ihm jemand zum Sieg, greift er sich ans Gemächt - das verlangt der Aberglaube.

In Capellos Fußballkaserne Milanello wird hinter grünen Stahlzäunen der Kies täglich geharkt, frei herumlaufende Schäferhunde hüten die Profis. Der gelernte Bauzeichner Capello, der bei Fininvest geschliffenes Management und gepflegte Arroganz lernte, ehe ihn der Meister auf die Trainerbank befahl, hat eine wesentliche Botschaft: »Wir sind Milan, die Elite.«

Seine Spieler zählen zumindest zu den bestbezahlten Söldnern des Sports. Jeder von ihnen hat sich der Strategie zu fügen; wer den Plan verfehlt, wie der kroatische Nationalspieler Zvonimir Boban im Spiel gegen Inter, wird eine halbe Stunde nach der Einwechslung wieder ausgetauscht.

Dies ist die Konsequenz, die der AC Mailand aus dem Bosman-Urteil zog: Mit sehr viel Geld haben Berlusconi, Vizepräsident Adriano Galliani (Rufname »Piranha") und Capello den Profis deren neue Macht wieder abgekauft. Milans Spieler bekommen langfristige Verträge, die sie nicht kündigen können; sie werden reich, müssen aber funktionieren. Funktionieren sie nicht, setzt der Diktator im Lodenmantel sie für ein paar Monate auf die Tribüne, um sie dann nach Spanien verhökern zu können.

Christian Ziege, 25, versteht das Experiment von Milanello ganz richtig als Mutprobe. Mit 18 Jahren war er aus mickrigen Verhältnissen, »aus dem hintersten Dings in Berlin«, zu Bayern München gewechselt. Dort gab es »ein Auto, gutes Geld, einmal Training am Tag und viel Freizeit«. Und da der junge Ziege das schöne Leben »im ersten Jahr überstrapazierte«, galt er noch sechs Jahre später als Musterexemplar dessen, was Berti Vogts »Wohlstandsjünglinge« nannte.

Doch Ziege, der lässig den Kopf neigt und ironisch vor sich hin grinst, sieht sich längst als ernsthaften Profi. In Capellos Fußball-Maschine muß er disziplinierter verteidigen als beim FC Bayern und ständig rennen. Aber wenn er vier Jahre durchhält und bei Milan zum Mann wird, wird er dereinst triumphierend nach München zurückkehren: »Dann bin ich dort nicht mehr der kleine 18jährige.«

Bislang war der Deutsche der stärkste der 15 Ausländer, bloß geholfen hat das nicht viel. Alle im Club irritiert, daß das Konzept der Kälte und der Konkurrenz noch nicht greifen will wie früher. Ob es an »Sprachproblemen« liegt, wie Capello meint? Jedenfalls war Tabellenführer Inter zuletzt 13 Punkte voraus.

Inter ist seit jeher der Club der feinen Leute aus dem Norden und der AC jener der Zuwanderer aus Sizilien oder Neapel. »Den Bauarbeitern und Straßenbahnfahrern«, so Gaetano Cafiero, Inter-Fan und ehemaliger Sprecher der Handelskammer, »fiel es leichter, sich mit Hilfe Milans in der Stadt zu assimilieren.« Wer für Inter ist, trägt Kaschmir; Milanisti kommen in Lederjacke. Und sie nennen sich »Brigate Rossonere« (Rotschwarze Brigaden).

Inter dominierte die Stadt in den Sechzigern. Präsident Angelo Moratti hatte jene große Mannschaft um Giacinto Facchetti und Sandro Mazzola geformt, die zweimal den Europapokal der Landesmeister gewann. Dann aber übernahm Milan, und über Inter wurde gelacht. Als der Großküchenchef Ernesto Pellegrini Inter-Patron wurde, spottete Giovanni Agnelli, Herr über Fiat und Juventus Turin: »Unser Koch ist neuer Präsident von Inter.«

Erst als Morattis Sohn Massimo, 57, das Erbe seines Vaters antrat, rückte der Club wieder nach oben. Und nun spielt Ronaldo, der Mann, der bei Barcelona war, den Arsenal London und Milan und alle Clubs der Welt wollten, für Moratti.

Damit hat sich der Verein an einen 21jährigen verkauft, dessen Anstellung sich auch durch 47 630 verkaufte Dauerkarten und durch keinen Erfolg je finanzieren läßt; wie gefährlich so etwas ist, hat schon Borussia Mönchengladbach erlebt, das in Abstiegsnot ist, weil es sich Stefan Effenberg unterwarf. Andererseits garantiert Ronaldo, wenn er in Stimmung ist, Pokale und all das, was sich ein italienischer Vereinspräsident sonst noch wünscht: Liebe der Fans, Lob durch die »Gazzetta dello Sport« und den Neid Berlusconis.

Ronaldo wuchs in Bento Ribeiro, einem armen Vorort von Rio, auf; sein Vater, ein Alkoholiker, verschwand, als Ronaldo 14 Jahre alt war. Gern hätte der Bub für Flamengo Rio de Janeiro gespielt, aber der Club weigerte sich, die Busfahrt zu bezahlen. Als Ronaldo 17 war, hatte er in 57 Spielen für Cruzeiro Belo Horizonte 55 Tore geschossen. Mit 20 wurde er Weltfußballer.

Der »Profi mit dem magischen Schuh« ("Corriere dello Sport") kickt mit Schienbeinschützern aus Carbon, weil die Verteidiger gegen ihn nur mit Tritten ankommen. Er widmet seine Tore den Indios. Und seine besten Trips hat er, wenn er, an einem Lolli nuckelnd, vor Videorecorder und Fernseher sitzt. Er liebe es eben, sagt er, seine eigene Kunst zu studieren.

Spielt Ronaldo jedoch nicht gerade Fußball, wird er zur Witzfigur. In Regenjacke und mit Wollmütze hockt er vor einer mit Sponsorennamen tapezierten Wand in Appiano Gentile, dem Quartier Inter Mailands, und sieht wieder aus »wie die Karikatur eines gekochten Eis« ("The Observer"). Reporterinnen knien vor ihm, halten ihm Mikrofone wie Dolche an den Hals und lächeln verklärt. Ronaldo nuschelt belangloses Zeugs vor sich hin, woraus am Abend drei Zeitungsseiten werden.

Ronaldo ist ein Milchgesicht, aber das ist Michael Jackson auch - es ändert nichts daran, daß Ronaldo ein Profi ist, der verehrt und bezahlt wird wie keiner vor ihm, der erste weltweite Popstar des Fußballs.

Zugleich wirkt der Mann, der Inter Mailand regiert, aber noch immer wie ferngesteuert: von seinen drei Managern etwa, die dafür sorgten, daß er noch jeden Verein trotz gültiger Verträge nach spätestens zwei Jahren wieder verließ, und auch von seiner Freundin.

Nach Anja, Adeli, Raquel und Teresa, all den Schönen, die sich einem wie ihm demütig hingeben, bot sich ihm zuletzt Suzana Werner, 20, an. Die ist Model, Fußballerin, Seifenoper-Darstellerin und blond. Suzana war zuvor mit den Nationalspielern Bebeto und Renato liiert, was ihr den Spitznamen »Maria Chuteira« ("Kick-Maria") eintrug. »Ich und Ronaldo sind so populär«, sagt sie, »weil wir ein modernes Märchen repräsentieren. Wir sind jung, schön und haben Erfolg.«

Das ist wahr, aber er hat ihn auch im Beruf. Vor dem Lokalderby gegen den AC Mailand beispielsweise erhält Ronaldo den Goldenen Schuh für den besten Torjäger in Europas Ligen. Im Spiel steht er zwar lange Zeit teilnahmslos herum, aber zweimal hat er Spaß. Zunächst legt er mit einem Sololauf Ziege und die Abwehr Milans lahm, was zum 1 : 0 führt; dann fällt er im Strafraum um und verwandelt den Elfmeter. Er wolle mit Inter »die Fußball-Geschichte neu verfassen«, sagt er nach dem 2 : 2, das den Rivalen auf Distanz hält.

Es ist eine neue Dimension des Profifußballs, daß Fans von ihren Helden nicht einmal mehr die Standardlüge erwarten, daß diese ihren Verein lieben; daß Ronaldo sich ebensowenig für Inter Mailand interessiert wie zuvor für den FC Barcelona, ahnen die Interisti. Aber er unterhält sie gut, er half ihnen am AC Mailand vorbei, und das genügt ihnen - möge es so lange dauern wie eben möglich.

Wie lange? Ronaldo ist zwar größer als Inter, aber größer als Ronaldo sind die Konzerne, die ihn verpflichtet haben. Es ist ein hartnäckiges Gerücht, daß Nike seinen Vertragspartner zum Wechsel nach Italien gedrängt haben soll, weil die Firma dort ihren Umsatz steigern wollte; und es ist mehr als ein Gerücht, daß Pirelli, Sponsor und Teilhaber von Inter, mit dem brasilianischen Helden den Konkurrenten Goodyear auf dem italienischen und dem brasilianischen Markt zurückdrängen will.

Ist Ronaldo also der erste Fußballer, der mal hier spielt und mal dort - je nach Wunsch der Industrie? Gigi Simoni, 58, sein Trainer, bestreitet es. Er könne, sagt er, mit diesem außergewöhnlichen Profi eine »Ära beginnen«.

Simoni bei Inter Mailand, das ist ungefähr so, als dürfte Uli Maslo Bayern München trainieren. 23 Jahre war der Mann in der Provinz und immer wieder entlassen worden, aber wenn das riskante Konzept des Präsidenten Moratti aufgeht, wird Ronaldo am Ende selbst diesen Trainer zum Meister machen.

Vielleicht aber liegt dann doch wieder Juventus oder Milan vorn. Im Frühling nämlich wird sich Ronaldo wohl für zwei Monate verabschieden, da Nike, Sponsor der brasilianischen Nationalmannschaft, wünscht, daß sich der junge Mann dann auf die Weltmeisterschaft vorbereitet.

Und bis dahin braucht Inter Mailand mindestens 20 Punkte Vorsprung.

Klaus Brinkbäumer

[Grafiktext]

Titel in bedeutenden Wettbewerben seit Gründung der Vereine

AC Milan und FC Internazionale Milano

[GrafiktextEnde]

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