Missbrauchsvorwürfe im Deutschen Turnen »Viele Trainer handeln nach der Devise: Nur die Harten kommen in den Garten«

Kann Leistungssport überhaupt gesund sein – und welches Gefühl muss Athleten dafür vermittelt werden? Die Psychologin Marion Sulprizio hat darauf Antworten.
Ein Interview von Antje Windmann
»Viele Trainer handeln nach der Devise: Nur die Harten kommen in den Garten«, sagt die Psychologin Marion Sulprizio

»Viele Trainer handeln nach der Devise: Nur die Harten kommen in den Garten«, sagt die Psychologin Marion Sulprizio

Foto: Mike Kemp / Getty Images/Tetra images RF
Zur Person
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Matthias Jung

Marion Sulprizio, Jahrgang 1965, ist Diplom-Psychologin an der Deutschen Sporthochschule in Köln und Geschäftsführerin der Netzwerkinitiative »MentalGestärkt «, deren Ziel es ist, die psychische Gesundheit im Leistungssport zu erhalten und zu fördern.

SPIEGEL: Am Freitag wurde bekannt, dass am Bundesstützpunkt in Chemnitz Turnerinnen über Jahre von ihrer Trainerin erniedrigt und gequält worden sein sollen. Hat Sie das überrascht?

Sulprizio: Es hat mich nicht überrascht, dass mündig gewordene Athletinnen sich nun endlich äußern, dass sie genug haben und sagen: Ich komme mit dem Wissen nicht mehr klar. Solche Nachrichten sind immer wieder erschreckend, glücklicherweise aber nicht alltäglich.

SPIEGEL: Nach den Aussagen der Athletinnen drängt sich die Frage auf: Kann Leistungssport mit Kindern und Jugendlichen überhaupt gesund sein?

Sulprizio: Leistungssport trägt zur Persönlichkeitsentwicklung bei, fördert beispielsweise Selbstvertrauen, ein positives Körperbild und Durchhaltevermögen. Sport ist grundsätzlich auch immer gut für psychische Prozesse, wirkt also gegen Depressionen oder Ängste. Aber: Die Dosis macht das Gift. Geht es in die Richtung, Sport um jeden Preis zu machen, also etwa unter Schmerzen zu trainieren, dann ist die Grenze überschritten.

SPIEGEL: Wann ist die Grenze überschritten in seelischer Hinsicht?

Sulprizio: Wenn der Athlet unglücklich ist, deprimiert, traurig. Dann muss etwas unternommen werden. Damit ist übrigens auch dem Trainer geholfen: Denn niemand kann dauerhaft Leistung erbringen, wenn er seelisch nicht gesund ist, er seine Persönlichkeit nicht entfalten kann. Leider ist das noch in vielen Trainerköpfen nicht verankert. Sie handeln nach der Devise: Nur die Harten kommen in den Garten, nur wer das hier aushält, der ist hier richtig und bringt Leistung. Das ist eine sehr ungesunde Selektion.

SPIEGEL: Wie viele dieser Trainertypen gibt es noch?

Sulprizio: Da gibt es noch einige, insbesondere bei den älteren Trainern und Trainerinnen, deren Ausbildung und eigene aktive Karriere lange zurückliegt. Und häufig in den sogenannten kompositorischen Sportarten wie Eiskunstlauf, Turnen, rhythmische Sportgymnastik. Da hält sich noch immer das Bild, dass ein bestimmter Stil zu Erfolg, an die Weltspitze führt. Also sehr viel Disziplin, sehr hohe Trainingsaufwände, wenig Empathie mit den Athleten.

SPIEGEL: Man würde erwarten, dass Funktionäre besonders hinschauen, wenn Menschen mit Kindern arbeiten. 

Sulprizio: Danach werden die Trainer nicht ausgewählt. Es gibt für alles irgendwelche Zertifikate, aber keiner prüft, ob man gut mit Kindern umgehen kann. Meist ist es so, dass sich jemand in dem Bereich bewährt hat und dann wird er in der Zielgruppe immer weitergereicht, einfach nur, weil er Erfahrung hat. Diese Personen werden in dem System erhalten, ohne dass geguckt wird, wie er oder sie auf dem Fußballplatz oder auf dem Turnfeld agiert.

SPIEGEL: Das heißt, diese Trainer können eigentlich schalten und walten, wie sie wollen?

Sulprizio: Im Grunde ja. Wenn sie erst einmal ihr Standing haben, dann sind sie so sozusagen frei in dem, was sie tun. Das Problem ist, dass gerade Kinder oft lange gar nicht verstehen, dass das möglicherweise gar nicht gut ist, was sie da erleben, dass ihnen womöglich sogar psychische Gewalt widerfährt. Die Trainer sind für sie ja Autoritätspersonen, die sie auch mögen, manchmal sogar verehren.

SPIEGEL: Wie definieren Sie psychische Gewalt?

Sulprizio: Man kann es nur aus Sicht des Empfängers fassen: Wie sagt einem jemand etwas, welche Mimik und Gestik begleitet das gesprochene Wort? Geht es um Kinder, ist der Ton sehr entscheidend. Nochmal: Der Trainer ist für sie Autoritätsperson. Umso wichtiger ist es, dass dieser eher eine Rolle als väterlicher Freund und Förderer einnimmt. Und nicht als ständig Druck erzeugender Despot.

Im Video sprechen die Schwestern Pauline und Helene Schäfer über ihre Erfahrungen:

DER SPIEGEL

SPIEGEL: Einige Verbände nehmen für sich in Anspruch, eine Kultur des Hinsehens etabliert zu haben. Braucht es mehr Kontrollen in Sportstätten?

Sulprizio: Das ist schwer umsetzbar. Man setzt auf den Generationenwechsel, auf die jungen Trainer, die gerade nachwachsen, für die respektvolles, wertschätzendes Führen eine natürliche Haltung ist. Denen man nicht erklären muss, dass Druck ungünstig und Stress schädlich ist.

SPIEGEL: Das würde bedeuten, bis es die neuen Trainer flächendeckend gibt, nimmt man Kollateralschäden in Kauf.

Sulprizio: Das ist ein Problem. Aber es kann jetzt auch nicht für jeden Trainer eine Aufsichtsperson geben. In manchen Verbänden werden mittlerweile Fortbildungen zu diesem Thema angeboten. Zudem gibt es neuerdings eine Pflicht, in den Vereinen und Verbänden Kinderschutzbeauftragte zu installieren. Ein Weg wäre, die Kinder und Jugendlichen zu ermutigen: Wann immer euch irgendwas seltsam vorkommt, was der Trainer oder die Trainerin macht, meldet euch bei dieser Vertrauensperson.

SPIEGEL: Diese Personen sind oft selbst bei den Vereinen angestellt, als Vertrauenspersonen taugen sie nicht unbedingt.

Sulprizio: Oft machen die Sportpsychologen in den Vereinen den Job mit. Und wenn man Psychologie studiert hat, dann verschreibt man sich selbst dem Endverbraucher und nicht dem System und dem Geldgeber. Man ist auch zum Schweigen verpflichtet. Es geht aber auch gar nicht darum, einen Trainer zu diskreditieren, sondern ihm vielleicht auch Hilfen zukommen zu lassen, wie er sich besser verhalten kann. Vielen Trainer ist gar nicht bewusst, wie sie sich verhalten.

SPIEGEL: Inwiefern sind Themen wie Psychologie und Pädagogik in der Weiterbildung von Trainern verankert?

Sulprizio: Sind sie, aber leider noch zu selten. Was sehr schade ist, denn es gibt inzwischen so viele Studien, die eindeutig belegen, dass Menschen, wenn man sie in ihrem Autonomiebedürfnis unterstützt, extrem motiviert sind und sie bessere Leistungen bringen. Zu den Weiterbildungen muss man aber auch sagen, dass am Ende immer die Frage steht: Wie geht ein Mensch mit dem Zertifikat, das er danach in den Händen hält, um? Setzt er das Gelernte eins zu eins um oder sagt er: Was die Psychos mir erzählen, ist mir doch egal. Ich mach das so, wie ich das schon immer gemacht habe. Das habe ich schon häufiger erlebt.

SPIEGEL: Welche Folgen hat das für junge Sportler, wenn sie einem Trainer oder einer Trainerin ausgesetzt sind, der oder die so eine Haltung hat?

Sulprizio: Das ist bei Kindern nicht anders als bei Erwachsenen: Erlebt man übermäßigen Druck und hat keine Ressourcen, um damit umzugehen, kann das eine ganze psychosomatische Palette nach sich ziehen – wie Migräne, Bauchschmerzen, Durchfall. Auch Burn-out und Depressionen gibt es im Kindesalter. Wobei sich Depressionen im jungen Alter manchmal ganz anders bemerkbar machen als bei Erwachsenen. Statt niedergeschlagen zu sein, werden Kinder oft aggressiv.

SPIEGEL: Können sich diese Aggressionen auch gegen sie selbst richten?

Sulprizio: Ja, das natürlich auch. Gerade in der Pubertät gibt es ja diese Problematik des Ritzens, dass sich die Betroffenen selbst verletzen, um innere Spannungen abzubauen. Um auf den Sport zurückzukommen: Das kann zum Beispiel dann passieren, wenn man den Trainer als wichtige Kontaktperson wahrnimmt und einfach nicht versteht, warum ist der jetzt so zu mir und wie gehe ich jetzt damit um?

SPIEGEL: Welche Konsequenzen sollte es haben, wenn sich ein Trainer nachweislich missbräuchlich gegenüber seinen Athleten verhalten hat? 

Sulprizio: Ich kenne einige Fälle sexualisierter Gewalt. Als das Fehlverhalten des Trainers nach Jahren aufgeflogen ist, wurde er sofort entfernt. So müsste das auch in den anderen Bereichen von Gewalt funktionieren, und zwar möglichst schnell und konsequent.

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