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HARY Mit der Pistole

aus DER SPIEGEL 50/1960

Mit wirrem Blick und verrutschter Krawatte sprang der 43jährige Vorsitzende- der Frankfurter »Sportgemeinschaft Westend«, Oskar Beetz, plötzlich von seinem Platz hoch und eilte die Tribünenstufen hinab. Als er unten auf den Vorsitzenden des Leichtathletik-Landesverbandes Hessen, Alfred Diefenbach, traf, stieß der »Westend«-Vereinsführer erregt Anklagen und Selbstbezichtigungen hervor. Jammerte Beetz: »Ich habe dem Hary 965 Mark gegeben.«

Die Folge des Amoklaufs gegen Schluß des internationalen »Westend«-Sportfestes am 22. September - Beetz heute: »Ich war innerlich fertig, praktisch vor einem Nervenzusammenbruch«

- war der bisher größte Sportgerichts-Prozeß der deutschen Leichtathletik. Der 23jährige Frankfurter 100-Meter-Weltrekordläufer Armin Hary, Rom-Heimkehrer mit zwei Goldmedaillen, wurde angeklagt, durch Annahme von Geld in unerlaubter Höhe, nämlich 965 Mark, gegen die Amateurbestimmungen verstoßen zu haben.

»Hary droht eine lebenslange Sperre. Es steht schlecht um die Amateureigenschaft Harys«, konstatierte das »Hamburger Echo«. Und Dr. Max Danz, Vorsitzender des Deutschen Leichtathletikverbandes (DLV), wehklagte: »Das ist das erste Mal in der Geschichte der deutschen Leichtathletik, daß ein Vereinsvorsitzender kommt und sagt: 'Das habe ich gemacht'.« Nicht nur gegen Hary, sondern auch gegen den »Westend«-Vereinschef Beetz wurde auf Antrag des DLV ein Verfahren eingeleitet.

Für Danz und den DLV war die Lage so ernst, daß sie selbst den Bundespräsidenten Heinrich Lübke mit dem Resultat von Beetzens Amoklauf behelligten. Willi Daume, der Präsident des »Deutschen Sportbundes«, mußte Lübke beibringen, es sei wenig opportun, dem unter derart schwerwiegender Anklage

stehenden Hary auch noch in der am 9. Dezember vorgesehenen Ehrung der deutschen Olympioniken den »Silberlorbeer« zu verleihen. Daume: »Ich habe den Herrn Bundespräsidenten gebeten, derart zu entscheiden. Der Herr Bundespräsident hat diesem Vorschlag entsprochen.« Hary wurde zugesichert, ihm werde der »Silberlorbeer« gegebenenfalls nachgeliefert.

Zuvor aber soll, exemplifiziert an Armin Hary, von juristisch geschulten Sportfunktionären zum erstenmal in Deutschland eine geheime Praktik durchleuchtet werden, von deren Anwendung zwar selbst hohe Verbandsmanager seit geraumer Zeit wissen (Dr. Danz: »Mir seit langem bekannt"), die jedoch in keinem Fall unterbunden werden konnte, weil die DLV-Detektive

keine konkreten Anhaltspunkte fanden.

Die insgeheim zwischen Wettkampf-Veranstaltern und renommierten Athleten vorgenommenen verbotenen Manipulationen bestehen in Geldzuwendungen, für die entweder keine Quittungen verlangt oder die als Reisekosten kaschiert werden. Da sich die Athleten häufig nicht mit den im Rahmen der Bestimmungen erlaubten Spesen und Sachpreisen, wie zum Beispiel Küchenautomaten, Kameras oder Reiseplaids, zufriedengeben, müssen die veranstaltenden Klubs entsprechend kalkulieren oder auf die Mitwirkung zugkräftiger Stars verzichten.

Daß mit ähnlich undurchsichtigen Manövern schon in den dreißiger Jahren die Amateurbestimmungen umgangen

wurden, enthüllte der deutsche 100-Meter-Veteran Erich Borchmeyer, Olympia-Fünfter von 1936: »Ich sage es ganz offen: Wir haben es ... genauso gemacht. Ich habe auch erhöhte Spesengelder genommen ... Ich kenne Vereine, die schon damals ihren Leuten feste Zuwendungen bezahlten.«

Freilich: Eine Reihe klassischer Fälle bezeugt, daß ausländische Sportbehörden selbst bei Athleten von höchster Prominenz gnadenlos durchgriffen, wenn es gelang, eklatante Verstöße gegen die Amateurbestimmungen nachzuweisen. So mußte es der finnische Langstreckenläufer Paavo Nurmi erleben, daß er kurz vor Beginn der Olympischen Spiele 1932 auf Lebenszeit als Amateursportler disqualifiziert wurde. Nurmi war in der Tat nicht nur der »große Schweiger« des Langstreckenlaufs, sondern auch ein großer Kassierer gewesen; ein fettes Honorar für einen Lauf in Ostpreußen war sein Verhängnis geworden.

Ähnlich erging es dem schwedischen Wunderläufer Gunder Hägg, der in den Kriegsjahren Weltrekorde wie am Fließband aufstellte und das Rekordbrechen zusammen mit seinem Standard-Gegner Arne Andersson fast als Schauunternehmen betrieb. 1945 mußten beide aufhören, von Wettkampf zu Wettkampf zu reisen, da der schwedische Leichtathletikverband sie wegen permanenter Spesensünden zu Berufssportlern ererklärte.

Der letzte Fall dieser Art liegt erst wenige Jahre zurück. Ein amerikanischer Marineleutnant namens Wes Santee, der unter seinen Landsleuten als hoher Favorit für den 1500-Meter-Lauf der Olympischen Spiele von Melbourne im Jahre 1956 galt, wurde das Opfer der bisher aufregendsten aller Amateurverfolgungen.

Santee war zur Last gelegt worden, er habe 1955 bei sieben Wettkämpfen insgesamt 1500 Dollar zuviel, an Spesen eingestrichen. Der amerikanische Leichtathletikverband verfügte Santees lebenslängliche Disqualifikation und feuerte außerdem drei hohe Funktionäre, die Santees Verfehlungen begünstigt hatten. Zwar wehrte sich Santee, indem er gegen seinen Verband vor den ordentlichen Gerichten prozessierte. Doch vor dem Obersten Gerichtshof des Staates New York mußte er schließlich kapitulieren, da die Beweise der Gegenpartei, fixiert in einer 40 Seiten umfassenden Anklageschrift, eindeutig gegen ihn sprachen.

Die Ankläger gegen Hary stießen auf einen wesentlich komplizierteren Sachverhalt als im Falle des Amerikaners Santee. Es zeigte sich nämlich sehr bald, daß für den gegen Hary erhobenen Vorwurf weder ein dokumentarischer Beweis noch eine Zeugenaussage außer der des ebenfalls angeklagten Vereinsführers Beetz vorlagen: Laut Beetz hatte Hary das Geld, wie üblich, unter vier Augen ohne Quittung entgegengenommen, und vor dem vom DLV eingesetzten Rechtsausschuß des Verbandes Hessen wurde dies, wie zu erwarten, von dem Beetz konfrontierten Hary bestritten.

Außerdem bestritt Hary, der seinen Arbeitsplatz im Frankfurter »Kaufhof« seit seinem Weltrekordlauf im-Juni zu meiden wußte, er habe sich seinen vor kurzem in Berlin demolierten weißen Auto-Union-Sportwagen mit unlauteren Mitteln verschafft. Vielmehr habe sein Autolieferant, so Hary vor dem Ausschuß, den Volkswagen Harys besonders hoch taxiert in Zahlung genommen, ihm darüber hinaus einen erheblichen Preisnachlaß gewährt und ihm schließlich die Möglichkeit angeboten, die Restsumme durch Tätigkeit als Automobilverkäufer abzudienen. Ob das wahr ist, blieb den Rechercheuren des DLV verborgen. Dr. Danz: »Die Firma gibt keine Auskunft.«

So hartnäckig Hary alle Beschuldigungen abstritt, so freimütig gab Beetz, ein Generalvertreter, der seit Jahren ehrenamtlich für seinen Verein tätig ist, eine detaillierte Schilderung der Vorgänge beim Sportfest am 22. September.

Zunächst, so Beetz; gab Hary der SG Westend eine Absage: »Nein, ich bin im Urlaub.« Beetz, dem am Start des für die Besucher attraktiven Läuferstars gelegen war, erkundigte sich nach Harys Reiseplänen und erfuhr: Hary wollte nach Athen. Branchenkenner Beetz war sich nun klar darüber, was geschehen mußte, um Hary den Start bei »Westend« dennoch schmackhaft zu machen. Er schlug Hary vor, die Reise zu verschieben. Dafür würde der Veranstalterklub »Westend« die Flugkosten übernehmen. Hary stimmte zu, und Beetz brachte dem startwilligen Renner am Vormittag des Wettkampftags nicht etwa die Flugkarten, sondern praktischerweise 965 Mark Bargeld in die Wohnung.

Doch wenig später begann der Ärger. Beetz: »Hary verlangte, die 100-Meter-Läufer in zwei Läufe aufzuteilen. Das lehnte ich ab. Darauf rief Hary: 'Das ist Erpressung, ich starte überhaupt nicht'.« Am Abend kam Hary dann doch, erklärte aber, er werde nur die Staffel laufen. Beetz ließ ihn stehen, doch der gebremste Athen-Reisende lief ihm nach und mahnte eine weitere Forderung an: »Aber das Tonbandgerät kriege ich noch!« Beetz, der Hary als Siegerpreis ein Tonbandgerät zugesichert hatte, winkte nur ab.

Auf Beetz lasteten nämlich inzwischen noch ganz andere Sorgen. Auch andere Spitzenamateure gingen den »Westend«-Vorstand in ultimativer Form mit hohen Forderungen an. Beetz: »Die setzten uns die Pistole auf die Brust.«

So habe zum Beispiel der amerikanische 400-Meter-Olympiasieger Otis Davis um 17 Uhr schlicht verlangt:

1000 Mark oder ich bin heute abend verletzt."Zwar gelang es, Davis auf 500 Mark herunterzuhandeln. Doch trotz einer Besucherzahl von 17 000 war der finanzielle Mißerfolg des seit 1959 geplanten Unternehmens bald abzusehen.

Kein Wunder, daß der enttäuschte Vereinsfunktionär Beetz die Fassung verlor und im Affekt enthüllte, was er bei einem finanziell ersprießlichen Abschluß seiner Veranstaltung vermutlich für sich behalten hätte.

Nicht nur Hary und sich selber, sondern auch den Rechtsausschuß hatte Beetz damit in eine schwierige Lage manövriert. Für Beetz,der die von ihm praktisch selbst angezeigten und vom Rechtsausschuß zur Anklage erhobenen Verfehlungen auch bei der Beweisaufnahme zugab, bestanden keine Zweifel: Er müsse bestraft werden. An Sportpresse-Stammtischen wurde bereits zur Preisfrage erhoben, ob es- dem Rechtsausschuß möglich sei, Hary trotz einer Verurteilung Beetzens freizusprechen.

Dr. Danz in der vergangenen Woche: »Es wird ein Urteil ergehen, das hoffentlich gerecht ist.« Ein Sportkritiker: »Da bin ich gespannt.« Danz: »Ich auch.«

Das Urteil bedeutet nach Auffassung der Sportfunktionäre keineswegs das Ende der Affäre: Die Beteiligten wollen den Fall noch einmal in der Berufung vor dem DLV-Rechtsausschuß, der letzten Instanz, aufrollen. Dr. Danz: »Notfalls rufen wir die ordentlichen Gerichte an. Da muß geschworen werden.«

Angeschuldigte Beetz (l.), Hary: Wir haben es ...

... genauso gemacht: Bestrafte Nurmi (1932), Hägg (1945), Santee (1955)

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