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FUSSBALL Neue Wirklichkeit

Alarm in Hamburg: Ist der HSV nach 102 Jahren pleite?
aus DER SPIEGEL 23/1989

Ernst Naumann ist ein altmodischer Mensch. Der Präsident des Hamburger Sport-Vereins, kurz HSV genannt, sitzt »lieber in der dritten als ersten Reihe« und »bezahlt lieber selbst«, als daß er sich einladen läßt.

In das zurückhaltend-hanseatische Dasein des Beamtensohns, der ohne kokelnde Zigarrenstumpen und Blazer schwer vorstellbar ist, fuhr vergangene Woche unverhofft ein Blitz: Der HSV sei in Not, die finanzielle Lage viel dramatischer als bislang bekannt und die Bundesliga-Lizenz für die nächste Saison gefährdet, meldete das örtliche »Hamburger Abendblatt«.

Das Blatt zitierte aus einem Brief, den der Deutsche Fußball-Bund dem HSV, wie ähnlich allen übrigen Bundesliga-Vereinen, regelmäßig zu Saisonschluß schickt: Um sicherzustellen, daß nicht eine der 18 Mannschaften während der Serie aus Geldmangel, und damit die Fußballmeisterschaft als zentrale Volksbelustigung, ausfällt, prüfen DFB-Buchhalter die Zahlen der Vereine.

Tatsächlich ist der große, 102jährige HSV auf den ersten Blick pleite: »Die Verbindlichkeiten übersteigen die Vermögenswerte«, schreiben die Prüfer, »um 1 089 000 Mark.« Doch da die Kunst der Bilanzierung weit undurchsichtiger ist als etwa die Flankenfertigkeit des HSV-Verteidigers Manfred Kaltz, stimmen die Zahlen nicht: Während die Schulden immer mit ihrem tatsächlichen Wert zu Buche stehen, ist beim Vermögen ein steuersparender Abschlag, Abschreibung genannt, erlaubt.

So kommt es, daß der Stammsitz des HSV an der Hamburger Rothenbaumchaussee - ein Appartementhaus mit Restaurant - mit drei Millionen Mark in der Bilanz steht, während Immobilienhändler das Objekt auf runde zehn Millionen Mark taxieren.

Mit knapp sechs Millionen Mark sind die Fußballer des HSV bewertet. Allein die drei Stars der Truppe, der polnische Stürmer Jan Furtok, der Mittelfeldspieler Thomas von Heesen und der Däne John Jensen, dürften diesem Betrag entsprechen.

Schließlich verfügt der HSV über einen immobilen Sparstrumpf, der in dem traditionspusseligen Verein bislang nicht angerührt werden durfte: Die 130 000 Quadratmeter unbelasteter Grund an Hamburgs Nordrand, auf dem diverse Trainingsplätze eingerichtet sind, stehen nicht einmal in der Bilanz. Das Landstück jenseits der Grenze nach Schleswig-Holstein war ein Geschenk fußballvernarrter Mäzene aus den zwanziger Jahren.

Wahr hingegen ist, daß all die immobilen Kostbarkeiten nicht darüber hinwegtäuschen können, daß dem HSV die flüssigen Mittel fehlen, die allerdings Banken von Fall zu Fall hergeben.

Wahr ist außerdem, daß am Beispiel des Hamburger Vereins die Krankheitssymptome des bundesdeutschen Fußballs deutlich ablesbar sind: Der Klub zehrt von vergangenem Ruhm und hofft, ohne daß eigentlich Anlaß dazu besteht, auf eine bessere Zukunft.

In Hamburg wie anderswo haben viele Exfans den Fußball als eine mittelprächtige Unterhaltung identifiziert, die allenfalls noch in zusammengefaßter Fernsehform Kitzel verspricht: Der Zuschauerrückgang ist dramatisch. Während im heimischen Stadion ungelenke Kicker den Ball ausdauernd über die Seitenlinie dreschen, sind im Fernsehen die schönsten Tore aus Holland, Spanien und Italien zu sehen. Während Waldhof Bochum im zugigen Volksparkstadion zu Hamburg über den Ball stolpert, bekämpft Boris Becker im Namen der Nation, Mann gegen Mann, den Feind in Paris oder Amerika. Der ehemalige Fußballfan verfolgt das Spektakel in seinem Wohnzimmer - mit dem Vorteil, hin und wieder seiner Familie einen Blick zuwerfen zu können.

Daß Live-Fußball, gemessen an den frühen Jahren der Republik, entscheidend an Attraktivität eingebüßt hat, dämmert Funktionären und Spielern nur langsam. Schleichend hat die neue Wirklichkeit, die nur noch im Fernsehen oder in den Zeitungen spielt, die reale Welt an Reiz überholt. Daß den Fußballbeobachter im Stadion nach jedem Tor ein tiefes Mangelgefühl befällt, weil ihm die Zeitlupenwiederholung fehlt, ist das krasseste Zeichen der neuen Zeit.

Doch beim HSV und in der gesamten Liga wird unverdrossen nach Methoden der Reizerhöhung gesucht, um der Fernsehsportwelt entgegenzutreten. Kaum waren die mißverstandenen Bilanzzahlen öffentlich, meldete sich in Hamburg ein Nervtöter besonderer Güte aus seiner Gruft.

Peter Krohn, eine Art Lou van Burg des Fußballs, der in seiner Glanzzeit Mitte der siebziger Jahre Strohhüte als Sonnenschutz im Stadion hatte verteilen lassen, bot sein Fußball-Wissen an. Wie groß Not und Verzweiflung unter dem harten Kern der Fußballfans ist, belegte die Umfrage einer Hamburger Boulevardzeitung, der zufolge ein unwiderstehlicher Krohn-Bedarf besteht.

Das einzige Mittel, Lethargie und Fernsehgewohnheiten der Zuschauer zu durchbrechen, scheinen größere Mengen des gängigen Heilmittels unserer Tage: Geld. Jene Vereine in Italien und Spanien, die mittels reicher Gönner zweistellige Millionenbeträge für die wenigen wahren Fußballgötter a la Gullit oder Maradona bezahlen, können in der alten Wirklichkeit gegen die neue Fernsehwelt antreten.

Altmodische Kaufleute wie Ernst Naumann, die dem glitzernden Wahn mit dem Mittel der Sparsamkeit entgegentreten, haben da ausgedient. Ende des Jahres tritt der HSV-Präsident ab.

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