NFL-Schiedsrichter Dünne Luft im Wolkenkratzer

Nach der Playoff-Niederlage der New Orleans Saints gegen die Minnesota Vikings flogen Becher
Foto:Chris Graythen/ AFP
Der „Kölner Keller“ der NFL befindet sich nicht unter der Erde, sondern in einem Wolkenkratzer in New York City, dem "Art McNally GameDay Central". Es ist das Hauptquartier der "Zebras", wie die NFL-Schiedsrichter wegen ihrer schwarz-weiß gestreiften Uniformen genannt werden. Unter der Leitung von Präsident Alberto Riveron werden hier an jedem Spieltag strittige Entscheidungen überprüft.
Für den ESPN-Analysten John Parry, der im vergangenen Frühjahr nach 19 Jahren als NFL-Referee in den Ruhestand ging, machen sie dabei einen guten Job: Er geht davon aus, dass „vielleicht 50 Fehlentscheidungen in einer ganzen Saison“ die Debatte bestimmten – bei insgesamt 32.640 Spielzügen.
Passbehinderung bleibt das größte Thema
Doch allein am ersten Playoff-Wochenende kam es zu einer Reihe kontroverser Entscheidungen. Die New Orleans Saints können davon ein Lied singen: Vor einem Jahr waren sie im Halbfinale gegen die Los Angeles Rams ausgeschieden, weil eine klare Passbehinderung nicht gepfiffen wurde. In der Sommerpause entschied die NFL daher, Passbehinderungen zukünftig überprüfbar zu machen. Bis dahin hatte das Foul als nicht angreifbare Tatsachenentscheidung gegolten.
Nun traf es die Saints in den Playoffs erneut. Im letzten Spielzug der Partie gegen die Minnesota Vikings schubste deren Tight End Kyle Rudolph seinen Gegenspieler P.J. Williams leicht - und bekam dadurch den nötigen Abstand, um den Ball zu fangen. Die Situation war nicht so eindeutig wie im Vorjahr, aber bei strikter Regelauslegung wäre ein Pfiff angebracht gewesen. Doch die NFL-Replay-Crew in New York schaute sich den Spielzug noch nicht einmal genau an.
Die Regelexperten der großen Sender waren sich dagegen einig: Wäre die Entscheidung auf dem Feld umgekehrt getroffen worden, hätte die Videoüberprüfung das Foul bestätigt. Um eine Entscheidung zu revidieren, benötigt es nämlich wie im Fußball einen "klaren Beweis". Mit anderen Worten: Weder die eine, noch die andere Entscheidung wäre zurückgenommen worden.
Ob eine Passbehinderung vorliegt oder nicht, bleibt also Ermessenssache – und wird im Laufe der Saison unterschiedlich bewertet. Zurückgenommen wurden in dieser Spielzeit 23 von 97 überprüften Entscheidungen.
Dreckige Fouls und verpasste Pfiffe
Doch auch andere Fouls sorgen für Aufregung: So musste Philadelphias Quarterback Carson Wentz bereits im ersten Viertel gegen Seattle mit einer Gehirnerschütterung das Spielfeld verlassen, nachdem Gegenspieler Jadeveon Clowney ihn beim Tackling mit dem Helm erwischt hatte.
Weil die häufigen Gehirnerschütterungen Chronisch Traumatische Enzephalopathie (CTE) verursachen, eine degenerative Erkrankung, die zur Demenz führt, versucht die NFL seit Jahren, die Anzahl an Kopftreffern zu minimieren. Jeder absichtliche Helm-zu-Helm-Kontakt ist daher verboten. Bei Clowneys Tackling gegen Wentz erkannten die Unparteiischen keine Absicht.
This dirty Clowney hit that knocked Wentz out of the game would have gotten him ejected in a college game.
— Jason McIntyre (@jasonrmcintyre) January 5, 2020
Not even a flag in the NFLpic.twitter.com/nbqzbZ2Oou
Die meisten Experten waren anschließend anderer Meinung: Ex-Schiedsrichter Mike Pereira, der nun als Experte für Fox arbeitet, sagte: „Meiner Meinung nach war es ein dreckiges Foul. Ich glaube nicht, dass Clowney bewusst jemanden verletzen wollte, aber er wollte Wentz unnötig hart treffen."
Im Gegensatz zur deutschen Debatte um den „Kölner Keller“ rufen die US-Fans nach noch mehr Videoeinsatz. Der Podcaster und Ex-Profi Pat McAfee, einer der lautesten Kritiker des Schiedsrichterwesens, ist sich jedenfalls sicher, dass die NFL den Fortschritt absichtlich aufhält: „Al Riveron war und ist ein Gegner davon, dass Passbehinderung überhaupt überprüfbar ist. Er betrachtet das Ganze als Angriff auf die Entscheidungsgewalt der Schiedsrichter. Wir haben die Kameras, aber er will sie nicht nutzen.“
Die Besten gehen – die Jungen fehlen
Laut Parry liegt das Problem allerdings tiefer: „Die Liga muss Geld und Ressourcen bereitstellen für die Schiedsrichter, das Training und die Rekrutierung.“ Landesweit schauen sich 65 Scouts jedes Jahr gut 500 Spiele an – zumeist im College-Football – und bewerten die Schiedsrichter anhand fester Kriterien. Wer besonders positiv auffällt, wird irgendwann von der NFL eingeladen, doch einen institutionalisierten Weg in die Liga gibt es nicht.
2012 erstreikten die rund 120 NFL-Schiedsrichter höhere Gehälter. Seitdem bekommen die Erfahrensten gut 200.000 US-Dollar pro Spielzeit, ohne die Playoffs. Wenn man bedenkt, dass die NFL-Saison nur ein halbes Jahr dauert, ist das kein schlechter Verdienst. Doch die meisten Karrieren beginnen spät und enden früh, da man langjährige Erfahrung vorweisen muss und bei schlechter Leistung oder körperlicher Einschränkung schnell wieder raus ist.
Zudem werden die besten Schiedsrichter seit Jahren von den großen Networks oder anderen Institutionen als Experten abgeworben – viele Beobachter sprechen bereits von einer Krise. Je größer der Druck, desto undankbarer wird der Job – und damit offenbar auch die Verlockung, mit Analysen im Nachhinein deutlich ruhiger zu leben und auch noch mehr Geld zu verdienen. Wie viele Rücktritte es nach dieser Saison geben wird, bleibt abzuwarten.