Wettsport Keirin in Japan Wie Pferderennen - nur mit Rädern

2015 im Velodrom von Kawasaki: Wer die Augen zukneift, könnte meinen, er blicke auf eine Pferderennbahn
Foto:Chris McGrath/ Getty Images
Das Rennen geht über 2000 Meter: Zunächst zieht ein Schrittmacher das Tempo an, dann gehen alle Rennradfahrer gleichzeitig in den Schlussspurt. Keirin gehört zu den Sprintdisziplinen auf der Bahn, es ist dynamisch, aber auch rasant gefährlich, wenn die Fahrer mit bis zu 70 Kilometern pro Stunde in die Lücken stoßen. "Man nennt es auch den Kampfsprint", sagt Tomáš Bábek.
Bábek war Europameister im Keirin, gewann Bronze bei der WM 2017 und ist darüber hinaus Experte für eine erstaunliche Keirin-Parallelwelt, die auf der anderen Seite des Globus existiert. Dort, wo die Sportart erfunden wurde - und zwar als Wettsport, um die japanischen Staatskassen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zu füllen. Heute werden in Japan jährlich Milliardenbeträge bei rund 40.000 Rennen auf 50 Bahnen im Land umgesetzt.
Etwa 2500 Sportler sind dabei in sechs Fahrerklassen und sechs Rennkategorien unterwegs - und ein paar wenige internationale Fahrer, die jährlich für ein halbes Jahr in diese andere Welt eingeladen werden. 2017 und 2018 war Bábek einer von sechs sogenannten Gaikokujin, einer von sechs "Menschen aus dem Ausland".
Bootcamp in den Bergen
Wer in Japan Keirin-Fahrer werden will, muss eine kostspielige einjährige Ausbildung abschließen. Der Andrang ist groß, lässt sich doch mit einer Lizenz sehr viel Geld verdienen, was auch der Anreiz für internationale Sportler wie Bábek ist, Einladungen der ausrichtenden staatlichen Keirin-Stiftung anzunehmen. "In den Rennkategorien, in denen wir teilnehmen dürfen, gibt es für einen Sieg rund 10.000 Euro, selbst der Letzte bekommt noch 1500", sagt Bábek, der für einen Erfolg im Weltcuprennen des Radsportweltverbandes UCI 500 Euro bekommt. "Der Sieger des finalen Grand Prix am Jahresende gewinnt fast eine Million Euro - für drei Minuten fahren."
Von den zahlreichen nationalen Anwärtern werden offiziellen Angaben zufolge jährlich rund zehn Prozent in die staatlich geführte Keirin-Schule aufgenommen. Abgeschottet in den Bergen von Shuzenji auf der Halbinsel Izu gleicht diese Ausbildungsstätte einem Bootcamp : Vom Morgenappell um 6.45 Uhr bis zum Abendessen um 17.45 Uhr wird täglich auf Straße, Rollen und Bahn trainiert. Das Einmaleins des Bahnradsports steht ebenfalls auf dem Stundenplan, kommen viele doch erst hier erstmals damit in Berührung.
Gefahren wird auf Stahlrädern, brandneu zwar, aber auf traditionelle Weise hergestellt. Sie sind schwer und gleichzeitig weich, außerdem mit Riemen statt der heute üblichen Klickpedale. "Da muss man sich erst mal wieder dran gewöhnen", sagt Bábek, der wie alle Gaikokujin ebenfalls die Schulbank drücken muss, allerdings nur für zwei Wochen - und ohne rasierten Kopf oder Uniform. Eine theoretische Abschlussklausur zu den Keirin-Regeln gehört jedoch ebenso dazu wie die praktische Prüfung: ein Fahrrad in einer erlernten Reihenfolge auseinander- und wieder zusammenzubauen:
Keirin ist auch in Japans Sportsystem eine Parallelwelt. So lukrativ es ist, so wenig angesehen ist es ob des Hintergrunds als Wettsport. So gab es auch kaum Überschneidungen aus Keirin-Profis und Nationalmannschaft. Das Keirin-Mutterland stellte seit der Aufnahme ins olympische Programm 2000 keinen Sieger und nur einen Weltmeister.
Für die Spiele in der japanischen Hauptstadt soll sich das ändern. Dafür hat das Land investiert, die besten Trainer und Wissenschaftler geholt, neue Trainingszentren mit der besten Ausstattung aufgebaut. Bei der Bahnrad-WM in diesem Jahr gewann Yūta Wakimoto Silber. Nach der Verschiebung der Spiele bleibt den Japanern noch ein Jahr, um die Dominanz der Niederländer zu brechen.
Weil im Wettsport Keirin so viel Geld auf dem Spiel steht, werden für die Rennwochenenden besondere Vorkehrungen getroffen: Um Manipulation zu verhindern, wird den Fahrern während der dreitägigen Wettkämpfe jeglicher Kontakt mit der Außenwelt untersagt. Telefone, Computer, jedes Gerät mit Bluetooth muss beim Betreten des Velodroms abgegeben werden. Untergebracht sind die jeweils zwei ausländischen Fahrer und ihr Übersetzer in Räumen mit Tatami-Matten, Privatsphäre wird lediglich durch einen Vorhang hergestellt.
Trotz des Status als eine von nur wenigen Sportarten, auf die in Japan gewettet werden darf, hat das in die Jahre gekommene Keirin Probleme. Seit den Neunzigerjahren gehen die Einnahmen kontinuierlich zurück, die Spieler, die ihr Gehalt auf der Rennbahn verwetten, werden immer älter. Um auch jüngere Japaner zu begeistern, wurden 2012 wieder Frauen zugelassen und die Rennen des sogenannten Mädchen-Keirin mit einer nationalen TV-Kampagne beworben, die die Fahrerinnen in Kleidern und Stöckelschuhen zeigte. "Für die Frauen gehört auch das Hübschmachen für den Wettkampf zur Ausbildung", erinnert sich Miriam Welte.
Die Olympiasiegerin war 2014 eine von zwei Fahrerinnen aus dem Ausland, die für zwei Monate eingeladen wurden. Im Gegensatz zu den Männern wurde Welte und Helena Calas der Aufenthalt bezahlt. Bábek hatte vor seinem ersten Rennen bereits 10.000 Euro für Flug, Unterkunft und Rennrad ausgegeben. Allerdings verdienen die Frauen auch sehr viel weniger.

Miriam Welte (r.) war 2014 mit Helena Calas eine von zwei ausländischen Fahrerinnen in Japan. "Ich habe die Zeit sehr genossen", sagt die sechsfache Weltmeisterin
Foto: privatDie Wettkampfwochenenden selbst sind stark formalisiert. Vor jedem Lauf werden die Fahrer auf eine neutrale Runde geschickt, bei der sie von den Spielern für ihre Wetteinsätze beurteilt werden können. "Das ist wie Pferderennen, aber der Radfahrer ist das Pferd", sagt Welte.
Die Männer tun sich meist in Teams zusammen, die Taktiken werden vor den Rennen bekannt gegeben. Die Frauen fahren nach internationalem Regelwerk, es ist also kein Kontakt erlaubt. Bei den Männern ist das anders. "Im Rennen wird es richtig hart", sagt Bábek, der sich außerhalb der Bahn mit den Fahrern gut verstanden hat. "Aber im Rennen kämpft jeder für sich." Und der Kampf geht häufig schon vor dem Startschuss los: Einige Fahrer versuchen, mit lautem Geschrei einzuschüchtern, andere malen mit Salz Pentagramme vor die Räder. Und während im Rennen jeder Fahrer Protektoren trägt, gibt es auch jene, die mit Snowboard-Schützern an den Start gehen. "Da weiß man schon: Okay, vor dem Fahrer sollte man sich in Acht nehmen", sagt Bábek. Gegen den Gaikokujin wollten viele ohnehin besonders gern gewinnen. "Da geht es nur darum, den Gajin aus dem Rennen zu nehmen." Gaijin ist die negativ konnotierte Form des Wortes für Nichtjapaner.
Es ist eine verrückte Welt, dieses Keirin in Japan. Miriam Welte und Tomáš Bábek würden es wieder machen. Bábek sagt aber auch: "Und wenn ich dann dort sitze vor meinem ersten Rennen, werde ich denken: Tomáš, warum hast du das gemacht?"