Der ehemalige DDR-Nationalspieler Harald Irmscher im Jahr 2013

Der ehemalige DDR-Nationalspieler Harald Irmscher im Jahr 2013

Foto:

Christian Schroedter / IMAGO

DDR-Nationalspieler bei Olympia 1972 Die Fußballer, die die Terroristen fotografierten

Für die DDR-Fußballnationalmannschaft waren die Olympischen Spiele von München voller Emotionen. Sportlich war sie erfolgreich, aber das Attentat auf das israelische Team mussten die Spieler aus nächster Nähe erleben.

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Harald Irmscher hat seine Kamera immer dabei. Südamerika, London, Wien, als DDR-Fußballnationalspieler hat er in den später Sechziger- und den frühen Siebzigerjahren das Privileg zu reisen, »und ich wollte meinen Eltern und Geschwistern, die daheim waren, doch zeigen, wie diese Länder aussehen«, erzählt er am Telefon. Erst Schwarz-Weiß-Bilder, dann Farbdias. Irmscher bringt mit seinen Fotos der Familie diese unerreichbare Welt nach Hause.

Mit dieser Kamera fotografiert er auch am 5. September 1972. Er fotografiert ein Weltereignis, Momente, die einen tiefen Einschnitt in die Geschichte der Olympischen Spiele darstellen. Seine Kamera hält die Ereignisse des Olympia-Attentats von München fest.

76 Jahre alt ist Irmscher heute. Die Olympischen Spiele von München, die sich zum 50. Mal jähren, der Terroranschlag gegen das israelische Team, das sei »furchtbar lange her«. Aber die Fotos von damals helfen dabei, dass ihm dieser Septembertag wieder vor Augen tritt. Er und sein Zimmerkollege Ralf Schulenberg wurden gegen fünf Uhr von Beamten des Bundesgrenzschutzes geweckt mit dem Hinweis, sie sollten auf keinen Fall auf den Balkon treten.

Erst recht neugierig

Warum nicht und worum es überhaupt ging, dazu machten die Männer keine Angabe. Mit dem Ergebnis, »dass wir natürlich erst recht neugierig waren und auf den Balkon gegangen sind«, sagt Irmscher: »Da stand dann gegenüber im ersten Stock einer der Terroristen, der hatte so einen komischen hellen Hut auf, Maschinenpistole in der Hand, der hat uns gewinkt, dass wir weggehen sollten.«

Auch wenn Irmscher dann immer noch nicht wusste, was dort vor sich geht, war ihm klar, dass hier etwas Außergewöhnliches, etwas Dramatisches geschieht. Irmscher zückt seine Kamera.

Der Blick von Hobbyfotograf Harald Irmscher auf das Quartier der Israelis am Tag des Attentats. Mit dem weißen Hut: einer der palästinensischen Terroristen

Der Blick von Hobbyfotograf Harald Irmscher auf das Quartier der Israelis am Tag des Attentats. Mit dem weißen Hut: einer der palästinensischen Terroristen

Sein Teamkollege Wolfgang Seguin war im Olympischen Dorf ein Stockwerk unter ihm untergebracht. Seguin spielt zwar beim 1. FC Magdeburg und nicht bei Carl Zeiss Jena wie Irmscher, dennoch sind sie bei der Nationalmannschaft die besten Kumpel. Ihre Freundschaft reicht bis heute.

»Oh Gott, was hätte passieren können«

Auch Seguin treibt es an diesem Morgen des 5. September auf den Balkon, auch er holt sich schnell seine Praktika und macht ein paar Bilder. »Am Anfang habe ich das gar nicht ernst genommen, im Nachhinein denkt man sich natürlich: Oh Gott, oh Gott, was hätte uns da passieren können«, erzählt er dem SPIEGEL. Das ganze furchtbare Ausmaß des Attentats: Elf Israelis sterben, ein deutscher Polizist ebenfalls, die geplante Geiselbefreiung endet in der Katastrophe. 50 Jahre haben die Angehörigen aus Israel anschließend um die Erinnerung und um Entschädigung kämpfen müssen.

Blumen zum Gedenken an die Opfer am Quartier der Israelis, fotografiert von Harald Irmscher

Blumen zum Gedenken an die Opfer am Quartier der Israelis, fotografiert von Harald Irmscher

Das alles haben Irmscher und Seguin in diesem Moment nicht geahnt. Die Mannschaft wurde zum Frühstück geleitet, dort wurde ihnen von der Teamleitung mitgeteilt, dass etwas vorgefallen sei, »aber immer noch recht schwammig, keine Details«, so Irmscher. Für die gesamte DDR-Delegation war die Situation mehr als heikel, war es doch Partei- und Regierungskurs, die Palästinenser als Befreier wahrzunehmen. »Von den Funktionären wollte niemand Klartext reden, die mussten sich bedeckt halten«, sagt Irmscher.

Auch für die Spieler war es alles andere als einfach – die Mannschaft hatte noch am selben Tag eine wichtige Partie gegen Mexiko zu bestreiten, und zwar nicht in München, sondern in Ingolstadt. Erst auf der Fahrt dorthin im Sonderzug machen sich die Spieler kundig, was los ist. Langsam wird ihnen klar: Die Olympischen Spiele haben nichts mehr von ihrer Unbeschwertheit.

Mit den Gedanken woanders 7:0 gesiegt

Es hilft nichts, am Nachmittag wartet der nächste Gegner, die Geschehnisse vom Morgen im Kopf, »aber wir haben versucht, uns nichts anmerken zu lassen«, sagt Irmscher heute. Mit Erfolg offensichtlich: Mexiko wird mit 7:0 besiegt – damit steht fest: Ob die DDR-Auswahl bei diesen Spielen eine Medaille holt, darüber entscheidet die folgende Partie, ausgerechnet gegen die Bundesrepublik. Etwas ganz besonderes.

Die DDR-Auswahl bei den Spielen in München

Die DDR-Auswahl bei den Spielen in München

Foto: Werner Schulze / IMAGO

Für die DDR sind dies ohnehin ganz besondere Sommerspiele. Zum ersten Mal ist man mit einer eigenen Hymne, mit einer eigenen Flagge am Start, die politische Führung wähnt sich wieder ein Stück näher am Ziel, die DDR als normales eigenständiges Land in der Welt zu etablieren. Der Sport hat eine Schlüsselrolle dabei inne, und in München, im Land des westlichen Klassenfeindes, soll das der gesamten Welt eindrucksvoll demonstriert werden.

»Die haben ihre Sportler, auch uns, nicht losgeschickt, um Platz sechs oder Platz acht zu belegen«, sagt Irmscher, »das Ziel war eine Medaille, ganz klar«.

66 Medaillen für die DDR

Mit stolzgeschwellter Brust marschiert der mächtige Sportfunktionär Manfred Ewald bei der Eröffnungsfeier hinter der DDR-Fahne her, die Sportler, die hinter ihm einlaufen, werden es ihm und der Führung in den kommenden zwei Wochen recht machen.

66 Medaillen, davon 20 in Gold, wird die DDR am Ende eingeheimst haben. Mit den Olympiasiegen von Sprinterin Renate Stecher, Stabhochspringer Wolfgang Nordwig, Speerwerferin Ruth Fuchs, Turnerin Karin Janz und Schwimmer Roland Matthes legt die DDR-Mannschaft den Anspruch für die nächsten Jahre fest. Sport wird politische Chefsache, und die DDR soll möglichst ganz oben stehen. Dafür ist man vieles bereit zu tun, das Dopingprogramm läuft in diesen Jahren auf Hochtouren.

Die Goldstaffel der DDR über 4 x 400 Meter von München

Die Goldstaffel der DDR über 4 x 400 Meter von München

Foto: Pressefoto Baumann / IMAGO

Harald Irmscher verspürt bei all dem auf dem Weg nach München ein gewisses Unbehagen. »Mir ging es immer nur um den Sport. Ich war nie ein politischer Mensch«, sagt er, er freut sich damals einfach, in die Bundesrepublik reisen zu können, dahin, wo die Leute seine Sprache verstehen. Mit der Mannschaft macht er einen Ausflug nach Garmisch-Partenkirchen, er bummelt durch München, »wir sind überall herzlich aufgenommen worden«.

Baltes und Kalb statt Beckenbauer und Müller

Die DDR-Auswahl gehört bei diesem Fußballturnier zum Favoritenkreis, aus den westlichen Nationen dürfen nur Amateure antreten, es gilt noch das strenge Regiment des IOC-Chefs Avery Brundage, der das Geldverdienen mit Sport als Teufelswerk ansieht, unvereinbar mit dem olympischen Gedanken.

So spielen für die Bundesrepublik nicht Sepp Maier, Franz Beckenbauer und Gerd Müller, sondern Heiner Baltes, Jürgen Kalb und Klaus Wunder. Immerhin zwei prominente Namen finden sich im DFB-Team: der junge Uli Hoeneß und der junge Ottmar Hitzfeld.

Die DDR dagegen hat ihre stärkste Auswahl geschickt, es sind die Blütejahre des DDR-Fußballs: eine Zeit, für die Spieler wie Joachim Streich und Jürgen Sparwasser stehen, Jürgen Croy und Peter Ducke, aber auch Irmscher und Seguin. Zwei Jahre nach München gewinnt der 1. FC Magdeburg den Europapokal der Pokalsieger, 1976 holt man Olympia-Gold in Montreal. Mit dem Gros der Spieler, die schon 1972 im Kader steht.

Für Seguin »unvergessen«

So geht die Mannschaft von Trainer Georg Buschner als Favorit ins Prestigeduell mit den Westdeutschen, ein Sieg soll her, Irmscher spricht sogar in der Rückschau von einer »Pflichtaufgabe« vor 80.000 Menschen im Olympiastadion. Seguin sieht das anders: »Wenn Sie die westdeutsche Aufstellung sehen, Hoeneß und Hitzfeld, das waren für mich doch keine Amateure mehr.«

DDR-Fußballer Wolfgang Seguin

DDR-Fußballer Wolfgang Seguin

Foto: Werner Schulze / IMAGO

Am 8. September treffen Deutschland West und Deutschland Ost also aufeinander. Immer wieder wird die Fußballgeschichte des Duells von Bundesrepublik und DDR über die Partie in Hamburg bei der WM 1974 erzählt. Aber das Spiel im Olympiastadion von München zwei Jahre zuvor ist das erste direkte Aufeinandertreffen – und für Wolfgang Seguin, den sie alle Paule nennen, bleibt es »unvergessen«.

Seguin ist nervös, anders als Irmscher, der nur Ersatzspieler ist, steht er in der Startelf. Ost gegen West auf deutschem Boden, dazu im Schatten des Desasters der gescheiteren Geiselbefreiung nach dem Attentat im olympischen Dorf. Am Tag des Attentats wollte Seguin eigentlich »nur noch nach Hause wie alle anderen Spieler auch«, er rechnet fest mit dem Abbruch der Spiele, aber sie gehen weiter. IOC-Chef Brundage will das so, trotz elf toter Israelis, trotz eines erschossenen deutschen Polizisten.

Über dem Spiel hängt ein mächtiger Schatten.

»Buschner hat immer versucht, das alles von uns fernzuhalten«, sagt Irmscher. Der Trainer schwört seine Spieler aufs Sportliche ein, er ist Teil dessen, was in München dieser Tage an allen Wettkampfstätten passiert. Es wird versucht, Normalität zu spielen. Dort, wo es keine Normalität mehr geben konnte. Buschner und die Mannschaft kämpfen um eine Medaille. Drei Tage sind seit dem Attentat vergangen.

Um Bronze gegen die Sowjets

So sieht Irmscher von der Bank, wie seine Teamkollegen früh durch Jürgen Pommerenke in Führung gehen. Den Ausgleich von Hoeneß kontert Joachim Streich mit dem 2:1, nach der Pause fallen noch zwei Tore, eins auf jeder Seite, Eberhard Vogel schießt acht Minuten vor Schluss das 3:2, die DDR gewinnt und steht im kleinen Finale um die Bronzemedaille gegen die Sowjetunion.

Joachim Streich im Spiel um Platz drei gegen die UdSSR

Joachim Streich im Spiel um Platz drei gegen die UdSSR

Foto: imago sportfotodienst

»Viele würden sagen, das Spiel war ein Politikum, aber wir Spieler haben uns nicht darum geschert«, sagt Seguin. Eine Genugtuung, ja, das war es, aber vor allem ein Spiel auf dem Weg zur Medaille. Gegen die UdSSR steht die nächste Partie mit Symbolwert an, es ging 2:2 nach Verlängerung aus, beide Teams erhalten Bronze.

Sportlich endet Olympia für Irmscher, Seguin und die DDR-Fußballer mit einem großen Erfolg. Aber der Schatten über München 72, er sollte nie verschwinden.

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