Deutsche Turnerinnen im Ganzkörperanzug bei Olympia Diese Botschaft wird den Wettkampf überdauern

Nicht im Team-Finale, trotzdem Gesprächsthema. Die vier deutschen Turnerinnen trugen Ganzkörperanzüge – als klares Zeichen: Jede soll sich in ihrem Körper wohlfühlen können. Die Aktion ist nicht selbstverständlich.
Aus Tokio berichtet Jan Göbel
Die deutsche Turnerin Elisabeth Seitz bei den Olympischen Spielen: Ganzkörperanzug statt Badeanzug-artiger Kleidung

Die deutsche Turnerin Elisabeth Seitz bei den Olympischen Spielen: Ganzkörperanzug statt Badeanzug-artiger Kleidung

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Laurence Griffiths / Getty Images

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Am Dienstagabend japanischer Zeit werden die deutschen Turnerinnen nicht dabei sein. In der Qualifikation für den Teamwettbewerb waren Elisabeth Seitz, Kim Bui, Sarah Voss und Pauline Schäfer auf 161,162 Punkte gekommen, 1,5 Punkte fehlten ihnen für den Einzug in das Finale der besten Acht. Bei Voss flossen danach Tränen.

Dennoch konnte man den Eindruck haben, die vier Deutschen hätten die Gymnastikhalle der Sommerspiele als Gewinnerinnen verlassen.

»Ich applaudiere ihnen«, sagte zum Beispiel die norwegische Turnerin Julie Erichsen, und: »Ich finde es wirklich cool, dass sie den Mut haben, auf einer so großen Arena zu stehen und Frauen aus aller Welt zu zeigen, dass man tragen kann, was man will.«

Bedeckung bis zu den Knöcheln

Bedeckung bis zu den Knöcheln

Foto: Ashley Landis / AP

Die vier deutschen Turnerinnen waren mit Ganzkörperanzügen in den Saal gekommen, die Ärmel weiß, die Hosenbeine rot. Die Anzüge der Deutschen machten nicht wie sonst in der Gymnastik üblich an den Hüften halt. Der Körper blieb bis zu den Knöcheln bedeckt. Normalerweise wird in dem Sport Badeanzug-artige Kleidung getragen.

Von der Kleiderwahl ging eine Botschaft aus: Mut haben, eigene Entscheidungen zu treffen. Und sie richtete sich gegen die Sexualisierung von Frauen im Sport. Bereits bei den Europameisterschaften im April hatten die deutschen Frauen mit ihren Ganzkörperanzügen ein Zeichen gesetzt, schon damals war das Aufsehen groß. Aber bei Olympia ist alles eine Spur größer, auf die Sommerspiele blicken noch mehr Menschen, das Millionenpublikum aus den USA verfolgt den Turnsport gebannt, um Superstar Simone Biles zu sehen.

Sie alle haben nun auch die deutschen Turnerinnen gesehen, ihre Anzüge, ihre Botschaft. Auch die »New York Times« berichtete darüber:

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Sarah Voss sagte, dass sie sich im Team zunächst nicht sicher gewesen seien, ob sie die Kleidung nach der EM nun auch bei Olympia tragen sollten. Die Entscheidung sei spät gefallen. »Wir haben uns zusammengesetzt und gesagt, in Ordnung, wir wollen einen großen Wettkampf haben, wir wollen uns toll fühlen und allen zeigen, dass wir toll aussehen.«

»Wenn man als Frau aufwächst, ist es in gewisser Weise ziemlich schwierig, sich an seinen neuen Körper zu gewöhnen«, sagte die 21-Jährige.

Seitz sagte im April bereits: »Es ist auch ein Zeichen, gerade weil wir viele Spagate machen und doch relativ breitbeinig sind«. Da sei es wichtig, »dass sich jeder so präsentiert, wie er sich wohlfühlt. Das ist das Zeichen, das wir als Team setzen wollen.« Es solle mehr ums Wohlfühlen und gutes Turnen gehen, »weniger um die Nacktheit«.

Sarah Voss

Sarah Voss

Foto: MARTIN BUREAU / AFP

Aber nicht nur das Alter, die Veränderung des Körpers und das Wohlfühlen muss bei der Kleiderwahl eine Rolle spielen. Auch religiöse und kulturelle Hintergründe können das.

Das Abwägen der Deutschen, ob sie die Ganzkörperanzüge nun tragen sollten oder nicht, die Reaktionen der Konkurrentinnen, das Lob für den Mut – das alles zeigt, dass es nicht selbstverständlich ist, einen Ganzkörperanzug im Turnen zu tragen. Sich gegen den Usus zu entscheiden, gegen die kurzen Outfits, dafür braucht es Führungsstärke. Die deutschen Athletinnen haben sie bewiesen.

Beachhandballerinnen wollen Shorts tragen wie Männer – Strafe

Die Outfits der Deutschen entsprechen den Garderobenregeln des Internationalen Turnverbands. Man muss das betonen, denn es ist nicht so, dass Sportlerinnen generell frei sind, ihren Körper nach Belieben zu bedecken.

Erst kurz vor Beginn der Sommerspiele weigerte sich das norwegische Beachhandball-Team der Frauen, bei europäischen Turnieren in Bikinihosen zu spielen. Stattdessen trugen sie Shorts, ähnlich denen, die die Männer beim Beachhandball tragen. Die Aktion hatte eine Geldstrafe zur Folge, ein Verstoß gegen die Kleiderordnung.

Simone Biles: Tragen, was gefällt

Simone Biles: Tragen, was gefällt

Foto: Jamie Squire / Getty Images

Dass der Ganzkörperanzug nun im Turnen Schule macht, dass ihn bald alle tragen, das ist unwahrscheinlich. Aber darum geht es auch nicht. Es geht darum, selbst entscheiden zu dürfen. Simone Biles will weiter in ihrem kurzen Trikot antreten. Es mache sie beweglicher, und sie glaubt, auch etwas größer. Biles misst 1,42 Meter. Sie stehe aber zu der Entscheidung der Deutschen, »das zu tragen, was ihnen gefällt«.

Für Biles und ihre Teamkolleginnen werden es die ersten Sommerspiele seit Bekanntwerden des Missbrauchsskandals um Larry Nassar. Er hat als ehemaliger Arzt der US-Turnerinnen Hunderte Athletinnen sexuell missbraucht, darunter einige der größten Stars des Sports.

Am Dienstag hoffen die US-Athletinnen auf ihre erste Goldmedaille im Turnen. Die Deutschen werden dann zusehen, vorbei ist das olympische Turnier für sie aber noch nicht. Seitz und Bui stehen am kommenden Freitag im Mehrkampf-Finale. Sie werden dann tragen, worin sie sich wohlfühlen. Auch als Zeichen für alle anderen.

Mit Material von Reuters und AP
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