Human Rights Watch über Sport in Japan Missbraucht, um Medaillen zu gewinnen

Nachwuchssportler in Japan leiden seit Jahrzehnten unter struktureller Gewalt - trotz lange zugesagter Reformen. Human Rights Watch hat mit Sportlern im Land des Olympia-Gastgebers über ihre Erfahrungen gesprochen.
Schüler in Japan

Schüler in Japan

Foto: Getty Images

Sie berichten von Prügel mit Bambusstöcken und Baseballschlägern, von verbaler Gewalt und vom mit der eigenen Badekappe Gewürgt werden, auch von intimen Berührungen. Trotz vor Jahren versprochener Reformen leiden Nachwuchssportler in Japan noch immer massiv unter struktureller körperlicher Gewalt, sexuellem und verbalem Missbrauch. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie von Human Rights Watch , die die Menschenrechtsorganisation an diesem Montag veröffentlichte. An diesem Freitag hätten in Tokio die Olympischen Sommerspiele begonnen, die wegen des Coronavirus auf 2021 verschoben wurden.

Die Vorwürfe der Menschenrechtsorganisation wiegen schwer. Von Depressionen, körperlichen Langzeitschäden und lebenslangen Traumata, Schlaf-, Angst- und Essstörungen, auch von Suiziden als Folge des Missbrauchs ist in dem 67-seitigen Bericht die Rede. Die Geschichte von körperlicher Bestrafung und Kindesmissbrauch im Sport reiche von den Schulen und Verbänden bis in den Elitesport.

"Jahrzehntelang wurden Kinder in Japan brutal geschlagen und verbal missbraucht, im Namen von Medaillen und Trophäen", sagt Minky Worden, Direktorin für Globale Initiativen bei Human Rights Watch. "Dies verletzt Japans Recht gegen Kindesmissbrauch, internationale Menschenrechtsstandards und die Richtlinien des Internationalen Olympischen Komitees zum Schutz der Sportler", heißt es in der Mitteilung.

Kindesmissbrauch im Sport sei noch immer akzeptiert und normal in vielen Teilen der Gesellschaft, hieß es. Das machte es schwierig für junge Sportler, sich über einen mächtigen Trainer oder Offiziellen zu beschweren, so Human Rights Watch. Schulen und Verbände würden Täter kaum bestrafen, oftmals dürften sie auch weiter als Trainer arbeiten.

Mehrere Jugendliche nahmen sich das Leben

Das Internationale Olympische Komitee (IOC) reagierte zunächst zurückhaltend auf die Studie. "Belästigung und Missbrauch sind unglücklicherweise Teil der Gesellschaft und ereignen sich daher auch im Sport", hieß es in einer Stellungnahme.  "Das IOC steht mit allen Sportlern zusammen, um klarzustellen, dass Missbrauch jeder Art gegen die Werte der Olympischen Bewegung verstößt, die Respekt für jeden im Sport fordern." Auf der Seite des Japanischen Olympischen Komitees fand sich zunächst keine Reaktion auf die Veröffentlichung.

Human Rights Watch beruft sich in seiner Studie auf aktuelle Interviews und eine Umfrage, in denen zusammen über 800 Sportler aus über 50 unterschiedlichen Sportarten ihre Erfahrungen mit Missbrauch schilderten. Auch Olympia- und Paralympics-Teilnehmer seien unter den Betroffenen. Gemeldet hätten sich Sportler aus 45 der 47 japanischen Präfekturen. Dazu wertete die Organisation japanische Medienberichte der vergangenen sechs Monate aus und sprach mit Sportfunktionären und Journalisten, Eltern und Trainern.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Twitter, der den Artikel ergänzt und von der Redaktion empfohlen wird. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen und wieder ausblenden.
Externer Inhalt

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Im Bericht wird etwa ein Highschool-Baseballspieler zitiert, den sein Trainer vor die Mannschaft zerrte und schlug, weil er das Laufen angeblich nicht ernst genug nahm. Er hörte auch dann nicht auf, als der Spieler schon blutete. Ein Wasserpolo-Profi erzählt, Kinder seien am Riemen ihrer Badekappen gewürgt worden, auch "wie im Militär" unter Wasser gedrückt, dass sie keine Luft mehr bekamen. Ein anderer berichtet von Prügel mit dem Baseballschläger, wenn er Fehler auf dem Feld machte. Ein Volleyballspieler, 17 Jahre, nahm sich nach "verbaler Gewalt" durch den Trainer das Leben. Auch für Jugendliche aus Judo, Basketball, Tischtennis und Leichtathletik nennt der Bericht Suizidfälle.

Reformen blieben nur Richtlinien

Kindesmissbrauch im Sport ist weltweit ein Thema. Die Bürde, solchen Missbrauch zu melden, läge meist bei den Opfern, während die Systeme dahinter oft undurchsichtig, teilnahmslos und unangemessen seien, urteilt Human Rights Watch. Trainer und andere Täter blieben unbestraft oder würden sogar in Positionen befördert, aus denen sie Betroffene bedrohen und zum Schweigen bringen würden. In der jüngeren Vergangenheit hatten in dieser Hinsicht unter anderem Berichte aus Südkorea internationale Aufmerksamkeit bekommen, so auch zuletzt der Fall der Triathletin Choi Suk-hyeon. Die 22-Jährige hatte sich im Juni nach mehreren Beschwerden über körperliche und psychische Gewalt, die sie erlitten hatte, das Leben genommen.

Auch die Recherchen aus Japan haben eine Vorgeschichte. Schon 2013, als sich Japan um die Olympischen Spiele 2020 bewarb, war das Thema Kindesschutz im Sport aufgekommen. Damals hatte eine Serie von veröffentlichten Missbrauchsfällen im Profisport in Kombination mit Berichten über Suizide von Nachwuchssportlern für Diskussionen gesorgt.

Die Veröffentlichungen hätten laut Human Rights Watch damals zwar zu Reformen wie etwa der Einrichtung von Hotlines geführt, an die Missbrauchsfälle gemeldet werden können. Die Menschenrechtsorganisation aber beurteilt die Änderungen nicht als ausreichend. Es würde sich nur um Richtlinien, nicht um verbindliche Vorgaben handeln, heißt es in der aktuellen Auswertung. So wird etwa kritisiert, dass Fortschritte nicht überwacht würden, es weiter keine Meldepflicht und keine Statistiken für Missbrauchsvorwürfe gebe.

"Sportorganisationen in Japan dürfen ihr eigenes System aufsetzen, um Missbrauch und Missbrauchende zu verfolgen", sagte Kanae Doi, die Japan-Direktorin von Human Rights Watch. "Das setzt die Kinder einem inakzeptablen Risiko aus und lässt Eltern und Sportlern nur wenige Möglichkeiten, sich zu beschweren oder Hilfe zu suchen."

Als Konsequenz aus dem Bericht fordert Human Rights Watch die Einrichtung eines Zentrums für sicheren Sport in Japan, eine unabhängige Einrichtung, die Fälle und Vorwürfe dokumentiert und betroffenen Sportlern und Eltern Hilfe anbietet. Auch dürften Trainer, die sich des Missbrauchs schuldig gemacht hätten, nicht mehr als solche eingesetzt werden, hieß es. "Hier entschieden aktiv zu werden, um Nachwuchssportler zu schützen, würde eine Botschaft an Japans Kinder senden, dass ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen wichtiger sind als Medaillen", sagt Direktorin Worden.

Anmerkung der Redaktion: Im Vorspann war in einer früheren Fassung des Beitrags von über 800 Missbrauchsfällen die Rede. Tatsächlich hatte Human Rights Watch für die Studie zwar nach eigener Angabe mit über 800 ehemaligen Nachwuchssportlern persönlich Kontakt, doch nicht alle dieser Gesprächspartner waren selbst von Missbrauch betroffen. Wir haben die Formulierung entsprechend präzisiert und bitten, den Fehler zu entschuldigen.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten