Kritik an Festhalten des IOC an Olympia "Diese Krise ist größer als die Olympischen Spiele"

IOC-Athletenvertreterin Hayley Wickenheiser
Foto: Nathan Denette/ APHayley Wickenheiser ist eine der bekanntesten Eishockey-Spielerinnen der Geschichte. Sie gewann mit Kanada vier olympische Goldmedaillen, wurde einmal Zweite, spielte in einer semi-professionellen Männerliga und nahm mit dem Softball-Team sogar an den Sommerspielen 2000 in Sydney teil. Seit 2014 gehört sie als Athletenvertreterin zu den Mitgliedern des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Ihr Wort sollte Gewicht haben. Als einziges IOC-Mitglied kritisierte sie bislang deutlich den rigorosen Durchhaltekurs der Organisation. Ihre Tweets machen weltweit Schlagzeilen. Das IOC handele "unverantwortlich und gefühllos", rigoros an den Plänen für Tokio festzuhalten, schrieb sie. "Diese Krise ist größer als die Olympischen Spiele."
"Ich fordere nicht, die Olympischen Spiele abzusagen. Aber wir müssen vor allem Menschlichkeit zeigen und können nicht einfach so weiter machen", sagt Wickenheiser im Gespräch mit dem SPIEGEL. "Wir sollten keine Durchhalteparolen verbreiten. Was in Italien passiert, sollte uns allen eine Warnung sein. Gerade wurde auch die Grenze zwischen den USA und Kanada geschlossen. Die Weltbevölkerung ist dramatisch von dieser Pandemie betroffen. Nur das zählt momentan. Ich habe die Lage zu Beginn auch noch etwas anders gesehen und dachte, dieses Virus werde schnell wieder verschwinden. Doch als Medizinerin habe ich die vergangenen zweieinhalb Monate in der Notaufnahme verbracht. Ich weiß es jetzt besser und sehe die Gefahr."
Wickenheiser sagt nicht ausdrücklich, dass die Spiele verlegt werden müssten - sie meint es aber. Sie wählt ihre Worte vorsichtig. Doch sind schon diese diplomatischen Sätze, adressiert an die IOC-Führung, etwas Besonderes. Denn ein Mantra des IOC-Präsidenten Thomas Bach lautet: Der Sport müsse mit einer Stimme sprechen. Abweichler werden in der Regel geächtet, das mussten schon einige Athletenvertreter vor Wickenheiser erleben: die Kanadierin Beckie Scott, Claudia Bokel aus Deutschland und der Brite Adam Pengilly etwa.
"Die Spiele werden weitergehen", sagt Wickenheiser in Anspielung auf das legendäre Zitat - "The Games must go on" - des IOC-Präsidenten Avery Brundage nach dem Olympia-Attentat 1972 in München. "Ich attackiere niemanden. Ich will keine Instabilität in der olympischen Familie. Ich will keine Panik machen. Aber ich sage klar und deutlich: Jetzt helfen nur drastische Maßnahmen!"
"Zuerst Menschen, dann Sportler oder IOC-Mitglieder"
Als IOC-Präsident Thomas Bach heute zum Abschluss von zweitägigen Online-Beratungen auch die Telefonkonferenz mit Athletensprechern durchzog, konnte Wickenheiser ihre wohl begründete Haltung nicht wiederholen. Es gab technische Probleme - bei ihr. Die Bosse der 33 olympischen Sommersportverbände waren tags zuvor teilweise noch per Video zugeschaltet. Die Athleten durften bei ihrer Telefonkonferenz nur Fragen stellen. Über eine Verlegung der Spiele wurde nicht debattiert - genauso wenig wie bei bei Bachs Terminen mit den Fachverbänden oder den Vertretern der Nationalen Olympischen Komitees (NOK), wie zahlreiche Teilnehmer in Gesprächen mit dem SPIEGEL berichteten.

Die Kanadierin Hayley Wickenheiser ist ehemalige Eishockeyspielerin und Athletenvertreterin im IOC
Foto: Nathan Denette/ APDie IOC-Administration hatte routiniert diverse Schriftstücke vorbereitet, die an beiden Tagen als Kommuniqués oder Stellungnahmen verbreitet wurden. So läuft das immer unter Thomas Bach, dieselben Taktiken und Mechanismen waren auch in den vielen Krisensitzungen zum russischen Staatsdoping zu beobachten. Die PR-Botschaft: Die olympische Familie hält zusammen und steht in der Pandemie voll hinter der weisen Führung des IOC. "Auch ich wünsche mir Olympische Spiele, natürlich", sagt Hayley Wickenheiser, "doch in dieser schweren Lage sind wir zuerst einmal Menschen, die sich um ihre Gesundheit und die Gesundheit ihrer Familien sorgen. Wir sollten zunächst als verantwortungsvolle Weltbürger handeln, erst dann als Sportler oder IOC-Mitglieder."
Wickenheiser hat Hunderte positive Reaktionen von Athleten bekommen und viele Interview-Anfragen erhalten. Thomas Bach aber hat nach den Tweets nicht mit ihr gesprochen. Auch Kirsty Coventry nicht, Simbabwes Sportministerin, die als Vorsitzende der IOC-Athletenkommission stets getreu an Bachs Seite steht. Ausgetauscht hat sich Wickenheiser lediglich mit Tricia Smith, die als Präsidentin des kanadischen NOK ebenfalls dem IOC angehört. Team Canada hat in einer Stellungnahme zwar bewegendere Worte gewählt als das IOC am Dienstag, steht aber hinter dem IOC-Präsidenten, der die Linie vorgibt, es sei zu früh für Entscheidungen.
Die IOC-Familie setzt auf den Mai und eine dramatische Besserung der Lage. Auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und sein Präsident Alfons Hörmann erklärten mehrfach, im Mai müsse die Entscheidung fallen - während das Leben quasi still steht und Großwettbewerbe abgesagt werden, die sich zeitlich nahezu mit den Olympischen Spielen überschneiden, wie die Fußball-Europameisterschaft, oder teilweise sogar danach stattfinden sollten. Das EM-Finale war für den 12. Juli geplant - am 14. Juli soll in Tokio das Olympische Dorf eröffnet werden, damit beginnt offiziell die "Olympic Period", die Spiele sollen dann am 24. Juli eröffnet werden.
Schwer erträgliche Usancen, merkwürdiges Demokratieverständnis
Klaus Schormann, Präsident des Weltverbandes des Modernen Fünfkampfs (UIPM), steht fest hinter den Vorgaben der IOC-Führung. "Wir haben eine hohe Verantwortung zu tragen", sagt Schormann. "Das gilt übrigens auch für Journalisten, sie sollten nicht alles umdrehen und nur das Negative herauslutschen." Debatten über eine Olympia-Verschiebung sind für Schormann "Hysterie und Panik und die völlig falsche Entwicklung". Drei Aufgaben stünden im Vordergrund, sagt der Hesse: "Die Gesundheit der Athleten, Trainingsmöglichkeiten und Solidarität." Thomas Bach habe das Gespräch mit den 33 Weltverbänden "sehr offen und auf ausgesprochen faire Weise geführt".
Andere Gesprächsteilnehmer berichten von schwer erträglichen Usancen und einem merkwürdigen Demokratieverständnis. Zudem fiel auf, dass für den Gewichtheber-Weltverband (IWF) auch der unter Korruptionsverdacht stehende Ungar Tomás Aján an der Schaltkonferenz teilnahm. Dabei kämpft eine Opposition für Ajáns Absetzung, dabei hat er sich "selbst suspendiert" und musste inzwischen seine IOC-Ehrenmitgliedschaft aufgeben. Andere Präsidenten hätten sich ein Machtwort des Versammlungsleiters gewünscht. Schormann sagt, er habe gar nicht mitbekommen, dass Aján dabei gewesen sein soll.
"Das ist alles so enttäuschend", sagt Hayley Wickenheiser. "Einige der Athletensprecher haben schon die richtigen Fragen gefragt. Im Grunde kam nur Blablabla zurück. Uns wurden Vorträge zu Dopingkontrollen und organisatorische Fragen bei den Sommerspielen in Tokio gehalten. Dabei geht es doch um viel Wichtigeres."