»Plötzlich wahnsinnig aggressiv«
Franz-Josef Simon, Lehrer und Hobbytrainer im pfälzischen Thaleischweiler, erhielt vom Briefträger regelmäßig dicke Umschläge mit geheimnisvollem Inhalt: bordeauxrote Kapseln, dazu ockerfarbene und dunkelbraune Tabletten - allesamt in illegalen Labors gepreßte Riesenpräparate, jedes von fast zweieinhalb Zentimeter Länge. Besondere Sorgfalt verwendete Simon auf bestimmte kleine weiße Pillen, die sich in der Postsendung beinahe verloren.
Der Medikamenten-Mix war nur für seine Schülerin Petra Leidinger bestimmt. Ein Jahr lang schluckte die damals 19 Jahre junge Kugelstoßerin alle Präparate, die ihr der Trainer mitsamt exakten Dosierungs-Anweisungen zukommen ließ - und für die er pro Sendung zwischen 300 und 400 Mark kassierte.
Die Athletin erfuhr lange nicht, welche Mittel ihr vom Trainer verkauft worden waren, Simon habe sie nie darüber aufgeklärt. Beiden war aber klar: Es waren verbotene Dopingmittel. Denn sie hatten die strikte Anweisung erhalten, die Mittel zehn Tage vor Wettkämpfen mit anschließender Dopingkontrolle abzusetzen.
Die kleinen weißen Pillen ließ Simon später in einem Labor analysieren, sie wurden als »Methandienon« identifiziert - ein Anabolikum, das der Schweizer Pharmakonzern Ciba-Geigy bis 1982 unter dem Markennamen »Dianabol« vertrieben, dann aber wegen schädlicher Nebenwirkungen vom Markt genommen hatte. Die Zusammensetzung der schwarz hergestellten Riesenpillen blieb bis heute geheim.
Die Leichtathletin beendete 1986 von einem Tag auf den anderen ihre Karriere, weil sie »tiefe Abscheu« vor den Pillen bekommen hatte. In einem Abschiedsbrief machte sie den früheren Bundestrainer Christian Gehrmann verantwortlich dafür, daß das Anabolika-Doping in ihrer Disziplin obligatorisch geworden war. In ihm, so Petra Leidinger vor dem Staatsanwalt, sehe sie aufgrund vieler Indizien den Absender der Dopingpost.
In einem der perfidesten Dopingfälle der Bundesrepublik - noch nie zuvor hat sich ein Trainer am Anabolika-Konsum seiner Athleten auch noch bereichert - ermittelt nun die Staatsanwaltschaft in Zweibrücken gegen Gehrmann und Simon. Die beiden Trainer werden beschuldigt, gegen das Arzneimittelgesetz verstoßen zu haben, indem sie nicht nur nicht zugelassene Medikamente illegal verbreitet, sondern auch noch wie Dealer mit schwarz hergestellten Mitteln gehandelt hätten.
Neben den Trainern aber sitzt wieder einmal der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) auf der Anklagebank. Denn Gehrmanns Machenschaften sind den Funktionären seit Jahren bekannt. Doch im Stile einer kriminellen Vereinigung deckte der Verband stets alle Handlungen des Medaillengaranten.
Petra Leidinger geriet in den Einflußbereich Gehrmanns, nachdem sie 1983 Deutsche Jugendmeisterin geworden war. Zwei Jahre später wurde die Kugelstoßerin bereits auf Anabolika gesetzt. Die Wirkung der chemischen Starkmacher war enorm: Sie konnte unter Stoff länger und härter trainieren. Vor allem aber wurde sie kräftiger: Innerhalb von elf Monaten nahm sie 16 Kilogramm zu und verdoppelte ihre Leistung beim Hantel-Bankdrücken auf 115 Kilogramm.
1985 wurde Petra Leidinger Deutsche Juniorenmeisterin. Als sie im selben Jahr die Kugel auf 18,32 Meter stieß, lobte Gehrmann das ihm ergebene pfälzische Duo überschwenglich. Da Petra von Simon »hervorragend gefördert« werde, so Gehrmann, komme bestimmt bald »noch mehr«. Tatsächlich gewann Petra Leidinger im folgenden Jahr die Deutsche Hallenmeisterschaft.
Doch die Kugelstoßerin bezahlte gleich doppelt für ihre Leistungssteigerung. Der Preis, den Simon für jede Dopingkur verlangte, war extrem hoch: Gegenüber den handelsüblichen Anabolika von Ciba-Geigy ergab sich ein Schwarzmarktaufschlag von 2000 Prozent.
Vor allem aber spürte die Athletin, wie sich ihr Körper unter dem Einfluß der männlichen Sexualhormone veränderte. Ihre Stimme wurde tiefer, und »an ungewöhnlichen Stellen« stellte sie »verstärkten Haarwuchs« fest. Sie wunderte sich zudem, daß sie »plötzlich wahnsinnig aggressiv« wurde. Petra Leidinger hatte den Eindruck, daß in Gehrmanns Trainingslagern in München und auf Lanzarote »alle das nehmen«. Bedenken, die nach den ersten Semestern des Pharmaziestudiums an der Universität in Mainz kamen, versuchte eine Studienkollegin zu zerstreuen. Die Siebenkämpferin Birgit Dressel, die sich mit dem Anabolikum Stromba dopte und wenige Monate später an einem allergischen Schock nach Medikamentenmißbrauch starb, riet ihr, »durchzuziehen, mit allen Konsequenzen«.
Diese kompromißlose Dopingtreue machte Petra Leidinger in ihrem Entschluß noch sicherer: Wenige Tage nachdem sie bei der Hallen-Europameisterschaft in Madrid mit dem fünften Platz ihr international bestes Ergebnis erzielt hatte, beendete sie ihre Karriere.
Gehrmann, dem der Freiburger Sportmediziner Armin Klümper bescheinigt, daß er »um jeden Preis Erfolg haben will«, und auch der DLV taten den Rückzug des vielversprechenden Talents als Betriebsunfall ab. Schließlich hatte es Gehrmann sonst stets verstanden, seine Athletinnen mit einer Rundum-Versorgung zufrieden und leistungsbereit zu machen.
Selbst ganz spezielle Nebenwirkungen des Frauendopings waren für ihn kein Problem. Erstmals hatte 1989 die amerikanische Sprinterin Diane Williams bekannt, daß die Steroide »mein Sexualverhalten veränderten. Oft war ich wie eine Nymphomanin«. Ähnliche Libidoprobleme hatten auch die DDR-Dopingmediziner bei ihren Sportlern erkannt. Gehrmann aber hatte stets alles unter Kontrolle, nacheinander war er mit der Weltrekordlerin Eva Wilms, der achtmaligen Deutschen Diskusmeisterin Ingra Manecke und der Kugelstoß-Olympiasiegerin Claudia Losch liiert.
Als Ingra Maneckes Mutter, um Gesundheit und Psyche ihrer Tochter besorgt, bei DLV-Vizepräsidentin Ilse Bechthold um Unterstützung gegen den Anabolika-Trainer bat, antwortete die Funktionärin schlicht, man wisse zwar um Gehrmanns Methoden, könne aber »nichts beweisen«.
Doch den Funktionären fehlt es von jeher am Willen zur Aufklärung. So fragte Ilse Bechthold noch während des Trainingslagers der deutschen Olympiamannschaft 1984 im kalifornischen Irvine vertrauensvoll einen Fachjournalisten, was man denn mit Gehrmann machen solle. Seine knappe Antwort: »Rausschmeißen.« Als aber wenige Tage später Gehrmann-Schützling Claudia Losch in Los Angeles die Goldmedaille gewann, hatten alle wieder Gefallen am Münchner Medaillenproduzenten gefunden.
Gehrmann wird zwar offiziell nicht mehr als Bundestrainer beschäftigt, genießt aber als bayerischer Verbandstrainer weiter die Rückendeckung der Funktionäre. Als sich Claudia Losch 1990 vor einer Dopingprobe drückte, blieb das ohne Konsequenzen. Im letzten Jahr noch nahm DLV-Sportwart Manfred Steinbach den Anabolika-Experten Gehrmann wieder mit ins Trainingslager für die Weltmeisterschaftsvorbereitung in Tokio.
Solange die »kriminellen Praktiken der Mädchendoper« auch noch von hohen DLV-Funktionären gedeckt werden, sagt die ehemalige Diskusmeisterin Brigitte Berendonk, könne niemand seine Kinder mehr zur Leichtathletik schicken. In ihrer neuen Doping-Fallsammlung beschreibt die Heidelbergerin zahlreiche Täuschungsmanöver - nicht nur im Fall Leidinger*.
Das Buch, das Anfang Juni auf den Markt kommt, müßte schon wieder aktualisiert werden. Denn je näher Olympia in Barcelona rückt, desto häufiger werden deutsche Athleten beim Dopen erwischt. Und um so abenteuerlicher wurden die Ausreden und Vertuschungsversuche: *___Um Katrin Krabbes Urin-Manipulation (siehe Seite 199) ____zu verschweigen, fanden Verband und Sprinterin eine ____gemeinsame Lüge als Sprachregelung: Die Weltmeisterin ____habe sich beim Einkaufsbummel den Fuß umgeknickt. *___Als die Marathonläuferin Iris Biba vor zwei Wochen der ____Anabolika-Einnahme überführt wurde, erklärte ihr ____Trainer, ein Sportwissenschaftler am Olympiastützpunkt ____Frankfurt/Main, die Athletin habe aus Versehen im ____Dunkeln statt zur Schlaf- zur Dopingtablette gegriffen. *___Der Kanu-Verband verbreitete die Meldung, der ____Kajak-Weltmeister Detlef Hofmann habe sich bei einem ____Treppensturz verletzt. In Wirklichkeit, so stellte sich ____in der vorletzten Woche heraus, waren in Hofmanns Urin ____als Dopingfolge große Mengen von Testosteron gefunden ____worden.
Weil die Verbände vor Olympia neue Doping-Enthüllungen fürchten, mauern sie, so gut es geht. So schleppt sich beim DLV seit über einem halben Jahr ein neuer Dopingfall hin.
Thomas Kreutz, 24, der sich im letzten Jahr in die deutsche Spitzenklasse der Mittelstreckler gelaufen hatte, war zu einem Sportarzt mit der Bitte gekommen, dieser möge ihm die mitgebrachte Ampulle Testosteron spritzen. Das Dopingmittel hatte der Nachwuchssportler - ganz die Gehrmann-Methode - per Post zugeschickt bekommen. Als Initiator _(* Brigitte Berendonk: »Doping - Von der ) _(Forschung zum Betrug«. Rowohlt ) _(Taschenbuchverlag, Reinbek; 448 Seiten; ) _(16,90 Mark. ) der anonymen Dopinglieferung vermutete Kreutz den Lauf-Bundestrainer Henning von Papen, mit dem er vorher über das Präparat gesprochen habe.
Der Sportarzt weigerte sich, das Testosteron zu spritzen. Statt dessen informierte er DLV-Generalsekretär Jan Kern und den Leitenden Verbandsarzt Professor Wilfried Kindermann. Erst jetzt versucht eine Kommission, den Fall aufzuklären.
Daß die Verbandsfahnder noch fündig werden, ist unwahrscheinlich. Dagegen sprechen die Erfahrungen der Vergangenheit. Denn auch als Petra Leidinger im Herbst vergangenen Jahres erstmals über ihren Fall sprach, blieben Konsequenzen aus.
Mehrmals suchten Vereine aus der Westpfalz beim Verband um lückenlose Aufklärung nach. Dem ehemaligen Sprinter Thomas Schultheiß brachte das seine »größte Enttäuschung: Man hatte einen konkreten Dopingfall, und alles wurde totgeschwiegen«. Insider vermuten, daß der rheinland-pfälzische Landesvorsitzende Erich Bremicker die Angelegenheit bewußt kleinhalten wollte, um seine Position als Chef de Mission der deutschen Mannschaft bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft im kommenden Jahr in Stuttgart nicht zu gefährden.
Schultheiß jedenfalls, hauptberuflich Richter am Amtsgericht Landstuhl, legte aus Verärgerung über die Verschleierungspolitik der Funktionäre seinen Posten als Vorsitzender des Rechtsausschusses nieder.
Doch Trainer Simon ("Ich sage nichts - Petra weiß doch alles") macht auch nach der Affäre so weiter, als sei nichts gewesen. Vor dem Staatsanwalt gab Petra Leidinger zu Protokoll, Simon habe ihr gegenüber geäußert, daß er »nichts bereue, was zum damaligen Erfolg geführt habe«.
Bei einem Sportfest vor zwei Wochen in Zweibrücken betreute der leistungsorientierte Pädagoge wieder junge Werferinnen. Eine 13jährige Simon-Schülerin stellte mit 13,44 Meter einen Pfalz-Rekord auf. Die alte Bestmarke hielt Petra Leidinger.
* Brigitte Berendonk: »Doping - Von der Forschung zum Betrug«.Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek; 448 Seiten; 16,90 Mark.