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DOPING Puzzlespiele im Sumpf

Jahrelang haben Staatsanwälte gegen Trainer und Ärzte der ehemaligen DDR ermittelt. Im Herbst beginnt die Prozeßwelle.
Von Jan Ludwig
aus DER SPIEGEL 24/1997

Der Junge aus Brandenburg empfand die DDR als kleines Paradies. Er hatte früh schwimmen gelernt, die ersten Wettkämpfe machten ihm großen Spaß. Seine Trainer taten alles dafür, daß aus dem begabten Kind ein erfolgreicher Botschafter des Systems werde. Doch dann fiel die Mauer und verhinderte eine Karriere als Meisterschwimmer.

Voriges Jahr wurde der Junge aus Brandenburg mit der kurzen Episode als Sportler konfrontiert. Weil er eine Lehre als Dachdecker beginnen wollte, mußte er zum Vertrauensarzt. Beim Routine-Check-up stellte der Mediziner eine bis zu 30fache Erhöhung der Leberwerte fest. Erst nach dem Befund erinnerte sich der ehemalige Schwimmer wieder an »die blauen Pillen«, die er schon als Neunjähriger schlucken mußte - seine Trainer hatten versucht, ihn mit Anabolika schnell zu machen.

Die Aufdeckung solcher »Schweinereien« bestärkt den Kripobeamten Michael Havemann in dem Bemühen, den tiefen Sumpf des DDR-Dopings auch knapp sieben Jahre nach der Vereinigung trockenlegen zu müssen. Zusammen mit 60 weiteren Kollegen arbeitet Inspektionsleiter Havemann in der Zentralen Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität (Zerv) in Berlin im Dopingbereich - und noch immer gehen in seiner Abteilung »fast jeden Tag« neue Fälle ein.

Die ersten Ermittlungsergebnisse gegen Politiker, Wissenschaftler, Ärzte und Trainer der ehemaligen DDR liegen bei der Staatsanwaltschaft, noch im Sommer soll Anklage erhoben werden, die Prozesse beginnen vermutlich im Herbst.

Dem juristischen Auftakt wird sich, zumindest nach der Strategie der Zerv, eine Flut von mehreren Dutzend Gerichtsverfahren anschließen - durch fast alle Sportarten. Die zusammengetragenen Fakten werden die Skrupellosigkeit belegen, mit der einst die als »Wunderland des Sports« gepriesene DDR ihre Erfolge erzielte. In bisher weltweit einmaligen Einzelheiten wird dabei nicht nur der Dopingbetrug gerichtlich dokumentiert werden. Es wird auch die Nonchalance offenbart, mit der sich westdeutsche Verbände wider besseres Wissen der DDR-Experten bemächtigten und teils bis heute unter Vertrag halten.

Als der Heidelberger Molekularbiologe Werner Franke 1991 die Dopingtäter wegen Körperverletzung anzeigte, ahnte bei der Kripo zunächst niemand, wie schwierig sich die Ermittlungen gestalten würden. Nicht nur, daß die DDR-Verantwortlichen wichtige Unterlagen vernichtet hatten. »Wir haben es hier«, sagt Zerv-Referatsleiter Matthias Graichen, »mit einem in sich abgeschotteten System zu tun.« Viele Opfer wollten nicht aussagen - aus Angst vor sozialer Ausgrenzung, vor dem Verlust ihrer Medaillen. Und manche ehemaligen Sportler, hat der Kriminaldirektor festgestellt, würden von ihren ehemaligen Peinigern »unter Druck gesetzt«. In vielen Verdachtsfällen, wie etwa bei der Oberhofer Karteikartenaffäre (siehe Seite 128), mußten die Fahnder letztlich kapitulieren.

Weil sich auch Sportverbände »wenig kooperationswillig« (Graichen) zeigten, beschritt die Zerv ungewöhnliche Wege. Mit öffentlichen Aufrufen suchte sie nach weiteren Opfern, ehemaligen Leichtathletik-Kaderathleten wurden Fragebogen zugeschickt. Und bei einer großangelegten Razzia mit 51 Durchsuchungen bekam die Zerv nicht nur - wie im ehemaligen DDR-Dopinglabor in Kreischa - »ganze Speicher« voller Dokumente über Namen und Dosierungen in die Hände. Sie fand sogar noch große Mengen an Dopingpräparaten.

»Wie ein Puzzlespiel«, erklärt Staatsanwalt Rüdiger Hillebrand, mußte der Wust aus Unterlagen und Hunderten von Zeugenbefragungen zusammengesetzt werden. Bisher haben sich dabei rund 60 Beschuldigte herauskristallisiert. Demgegenüber stehen über 300 Sportopfer, die zum Teil schlimmste körperliche Schäden davongetragen haben (siehe Grafik). Auch vier Todesfälle untersucht die Zerv.

In Kürze haben zwölf Trainer und Ärzte vom TSC und vom SC Dynamo Berlin Anklagen zu erwarten. Danach sollen, beliefert mit Zerv-Material, örtliche Staatsanwaltschaften gegen die Schwimmbetreuer von zehn weiteren Klubs der DDR prozessieren. Nach ähnlichem Schema werden Anklagen in den Sportarten Leichtathletik, Rudern, Gewichtheben und Kanu vorbereitet.

Gestützt auf abgeurteilte Verfahren, will sich die Staatsanwaltschaft pyramidenartig bis zu den Entscheidungsträgern vorarbeiten: Sportführern wie Manfred Ewald, Horst Röder und höchsten SED-Funktionären wie Rudi Hellmann und Egon Krenz. Der Anklage kommt dabei ein Urteil des Oberlandesgerichts Dresden zu Hilfe, das in einem anderen Verfahren festgestellt hat, daß »bei der Dopingmittelvergabe ... führende Mitglieder des Zentralkomitees Hilfe sowohl in personeller wie sachlicher Hinsicht leisteten«.

Ob sich jedoch alle Schuldigen verantworten müssen, erscheint zweifelhaft. Derzeit fällt Körperverletzung unter die »relative Verjährung": Nach dem 31. Dezember 1997 kommen selbst hemmungsloseste Anabolikaverteiler ungestraft davon.

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Nachgewiesene Nebenwirkungen des Anabolikakonsums in der DDR

[GrafiktextEnde]

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Nachgewiesene Nebenwirkungen des Anabolikakonsums in der DDR

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