FUSSBALL Rache der Provinz
Wenn früher Frankreichs Krieger mit besonders scharfen Waffen kämpfen wollten, zogen sie nach Saint-Etienne. Denn nirgends wurde der Stahl so hart geschmiedet wie in der Kapitale der Bergregion Forez, unweit Lyon.
Heute wird in Samt-Etienne wieder ein Spitzenerzeugnis produziert -- im Fußball. Erstmals seit »Stade Reims« vor 17 Jahren steht wieder ein französisches Team im Europacup-Finale der Landesmeister: Die »Association sportive de St. Etienne« (Asse).
Als Asse ins Endspiel gegen Bayern München (am 12. Mai im schottischen Glasgow) vorstieß, brachte es die am Sport sonst völlig desinteressierte Pariser »Monde« auf Seite eins. Staatschef Giscard d'Estaing kabelte St. Etiennes Bürgermeister, seinem Arbeitsminister Michel Durafour: »Danke St. Etienne, daß ihr Frankreich ins Finale geführt habt.«
St. Etienne ist die Ausnahme im tristen französischen Fußballalltag: Seit 1966 hat sich Frankreichs Nationalmannschaft für keine Weltmeisterschaft mehr qualifiziert. Bei der letzten Ausscheidungsrunde für die Europameisterschaft landete die Nationalelf hinter Belgien und der DDR auf dem dritten Platz.
Anders St. Etienne: Im vergangenen Jahr scheiterte Asse erst im Halbfinale am diesjährigen Endspielgegner München. Bayern-Trainer Dettmar Cramer vergleicht den französischen Meister bereits mit dem dreifachen Europacup-Sieger Ajax Amsterdam.
Die Stadt St. Etienne ist eine Mischung aus deutschem Kohlenpott und englischem Industrierevier, in Berge eingezwängt wie die Patenstadt Wuppertal (dessen alte Schwebebahn vor dem Asse-Stadion steht), von rauchenden Schloten des Stahlgiganten Creusot-Loire umgeben wie Schalkes Glückauf-Kampfbahn in Gelsenkirchen.
Das Industriemilieu ist zweifellos ein Hauptgrund für St. Etiennes Aufstieg zum europäischen Spitzenfußball. »Die Zuschauer sind meistens Arbeiter«, sagt Asse-Trainer Robert Herbin, 37, »und die wollen sehen, daß die Jungs auf dem Rasen laufen und sich abrackern.« Arbeit ist Herbins Lieblingsvokabel.
»Der Erfolg ist«, analysiert der jugoslawische Asse-Torwart Ivan Curkovic, der schon 1966 mit Partisan Belgrad im Europacup-Finale stand, »daß wir auf typisch französische Eigenschaften wie Schnelligkeit und Einfallsreichtum fremde Werte wie Realismus und Härte aufgepfropft haben.«
Turm in der Abwehr ist der Argentinier Oswaldo Piazza. Aber er leitet zugleich die gefährlichsten Angriffe aus der Tiefe ein. Mannschaftskapitän Jean-Michel Larque (Marktwert: 1,2 Millionen Mark) ist einer der gefährlichsten Freistoßexperten Europas. Mit einem raffinierten Freikick schoß er das einzige Tor gegen Halbfinalist Eindhoven und auch gegen Supercup-Gewinner Kiew verhalf ein verwandelter Larque-Freistoß den Franzosen zum Sieg.
Architekt des Erfolges ist in erster Linie Trainer Robert Herbin. Mit 17 Jahren kam er nach St. Etienne, spielte dort 16 Jahre lang und übernahm vor vier Jahren die Mannschaft als Trainer. Zwar wird das Finale bereits Asse's 33. Spiel im Europäischen Meistercup sein, aber erst unter Herbin stieg St. Etienne zur »neuen Europäischen Fußballmacht« auf ("International Herald Tribune").
Unterstützt wird Herbin vom Einkäufer Pierre Garormaire. Auch die Rekrutierungspolitik ist ein Schlüssel zum Erfolg von St. Etienne: Alle derzeitigen Berufsspieler sind sehr jung in den Kohlenpott gekommen, zumeist waren sie erst 16 bis 18 Jahre alt. Um beispielsweise den Argentinier Piazza anzuheuern, hielt sich Garormaire einen Monat in Buenos Aires auf.
»Stadt, Spieler und Klub sind eine Familie«, erklärte Asse-Boss Roger Rocher, wie Bayern-Vereinschef Neudecker früher, auch ein Bauunternehmer. Er zahlt seinen Spielern Grundgehälter von 8 000 bis 25 000 Francs monatlich (4 350 bis 13 600 Mark), aber hohe Erfolgsprämien: Für den Einzug ins Finale erhielten Spieler und Trainer 50 000 Francs. Herbin baute sich davon einen Swimmingpool.
Im Budget plant Rocher zwei Europacup-Runden ein: »Die erste Runde gegen leichte Gegner zählt finanziell nur halb, erst die zweite voll«, den Überschuß legt er auf die hohe Kante. Für zwei bis drei Jahre soll das Hamstergeld bereits reichen. Dabei hilft ihm, daß die Stadt das Stadion und Klubräume für eine symbolische Miete bereitstellt.
Mit Nebeneinnahmen aus Reklame (der Jagdwaffen-Produzent Manufrance wirbt auf den Asse-Trikots) beträgt der Europacup-Anteil in diesem Jahr aber bereits ein Drittel des 15-Millionen-Franc-Budgets.
Noch mehr profitieren die Stadt St. Etienne und deren Unternehmer vom Image des Spitzenklubs. Schon vor fünf Jahren errechnete der damalige Präfekt des St.-Etienne-Departements Loire die Asse-Werbewirkung auf etwa zehn Millionen Francs jährlich. Rocher: »Heute ist das gut doppelt so viel.«
Für Rocher ist der Erfolg von St. Etienne aber auch eine Revanche der Provinz an Paris. »Paris hat doch mit seiner Nationalmannschaft nichts zuwege gebracht«, sagt Rocher. und auch Trainer Herbin ist böse auf das überkritische Pariser Publikum: »Die haben keinen besseren Fußball verdient.«
Nach St. Etiennes Einzug ins große Europa-Finale wollte selbst die arrogante Hauptstadt mit der 222 000 Einwohner kleinen Provinzstadt feiern. Am Tage nach dem Spiel in Glasgow werden die Asse-Fußballstars auf den Champs-Elysees zur Konfettiparade antreten. Rocher stolz: »Und Paris hat dazu eingeladen.«