FUSSBALL Sauerstoff-Stürmer
Angesichts des Kalenders, der das Herannahen der Fußball - Weltmeisterschaft anzeigt, haben die Fachzeitschriften »L'Equipe« (Paris) und »Sport-Kurier« (München) die Offiziellen ermahnt, sich nicht allein auf das eingebimste Können ihrer Spieler zu verlassen, sondern dem Leistungsvermögen mit Sauerstoff künstlich nachzuhelfen. Beide hatten den absonderlichen Verlauf des Länderkampfes Schweiz - Deutschland im Auge, der am 25. April in Basel über die Szene ging.
Dort hatten sich nach der Halbzeitpause die anwesenden deutschen Enthusiasten gefragt, ob die Mannschaften spaßeshalber ihre Trikots vertauscht hätten. Denn plötzlich stürmten die mit 0:4 abgeschlagenen Schweizer hemmungslos, und Deutschland mußte beim Schlußpfiff froh sein, mit 5:3 noch den Sieg gerettet zu haben.
Einen Verdacht der deutschen Spieler, denen die unvorhergesehene Ausdehnung der Pause aufgefallen war, bestätigte der Schweizer Trainer Carl Rappan: »Unsere Spieler haben in der Halbzeit eine Sauerstoffpumpe erhalten.« Er bot damit den verwirrten deutschen Fans eine maßgerechte Patentlösung für das Rätsel von Basel: Nicht mangelhafte Kondition der Deutschen, sondern die durchdachte Anwendung neuzeitlicher Alchimie beim Gegner war an dem verqueren Spielverlauf schuld.
Schon 1948 hatten englische Clubmannschaften bei Gastspielen in Südamerika beobachtet, daß ihre Gegner in der Pause wie eine Fernaufklärer-Besatzung an Atemgeräten nuckelten. 1952 verpflanzte eine portugiesische Fußball-Expedition die eindrucksvolle Apparatur von Brasilien nach Lissabon, wo sie alsbald den spanischen Nachbarn neiderregend in die Augen stach. Jedenfalls naschten wenig später auch die Männer des FC Español Barcelona behaglich ihre Sauerstoff-Rationen.
Von den Erfolgen der Spanier stutzig gemacht, entschloß sich im Herbst 1952 die Frankfurter Eintracht, ihre Spieler mit Oxygen anzuheizen. Vereinsarzt Dr. Runzheimer lieh sich das Gerät aus einem Krankenhaus und ließ seine Elf am 16. November in der Halbzeitpause des Spiels gegen die Offenbacher Kickers zwei, drei Minuten lang inhalieren. Die Wirkung war erstaunlich. Sei es, daß die Frankfurter von Haus aus skeptischer waren als die Südländer, sei es, daß man ihnen die wohltätige Wirkung nicht überzeugend genug in die Köpfe gehämmert hatte - jedenfalls gerieten sie in einen fürchterlichen Ansturm des Gegners, den sie nur mit großem Dusel überstanden.
Bald allerdings gewöhnten sich auch die Frankfurter an die Oxygen-Flasche und schluckten brav, bis der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hellhörig wurde und mißbilligte. Er gab eine Erklärung ab, die die Einträchtler auf nicht ganz einleuchtende Art in die Nachbarschaft von Alkoholisten rückte, nämlich: »Unseres Erachtens ist die Anwendung solcher Mittel - von anderer Seite wird Sekt in der Halbzeit empfohlen - von sportlicher Auffassung weit entfernt.«
Das war ein klares Stoppsignal. Gehorsam demontierte Eintracht Frankfurt das Pumpwerk, und auch in anderen deutschen Clubs schraubte man die vorsorglich beschafften Geräte auseinander. Exakte Erfahrungen konnten nicht gesammelt werden. Erst in Basel kam der deutsche Fußball wieder mit dem Sauerstoff in engere Berührung.
In der weltweiten Sauerstoff-Debatte setzen Pro und Contra der Wissenschaftler an einem schon leicht angestaubten physiologischen Erfahrungsgesetz an.
Es besagt einmal, daß in dem strapazierten Muskel hinderliche Abbauprodukte entstehen, insbesondere Milchsäure. Es besagt zum zweiten, daß das Blut Sauerstoff zu binden und an die Muskeln heranzuschleppen vermag. Dort beseitigt der Sauerstoff die Ermüdungsstoffe durch chemische Umsetzungs-Prozesse. Der Muskel wird gleichsam regeneriert.
Weiter: Bei starken körperlichen Anstrengungen geht der Muskel nachweislich eine »Sauerstoff-Schuld« ein, die in einer Erholungspause abgetragen werden muß. Und das Blut muß mit Oxygen aufgesättigt werden, damit die Muskeln ihren Stoffwechsel reibungslos vollziehen können. Die ganze Diskussion der Physiologen dreht sich jetzt im Grunde um die Frage, ob dieser Aufsättigungs-Prozeß des Blutes - weder in den Geweben noch in der Lunge kann Sauerstoff gespeichert werden - durch Zufuhr von unvermischtem Sauerstoff begünstigt wird oder nicht.
In der Schweiz wird die Frage deutlich bejaht. Ebenfalls sprach sich auf Anfrage des Internationalen Olympischen Komitees Professor Giuseppe La Cava, Italien, Generalsekretär des Internationalen Sportmediziner-Verbandes, positiv aus. Allerdings habe die Anwendung von Sauerstoff nur bei starker Erschöpfung - die meistens gleichbedeutend ist mit einem Oxygen-Defizit des Körpers - einen Sinn.
Dagegen steht das Fachurteil namhafter deutscher Experten, die in der Schweizer Rechnung eine Fehlerquelle entdeckt haben wollen. So wurde im April auf der Kölner vorolympischen Tagung deutscher Sportlehrer, Trainer und Wissenschaftler die Sauerstoff-Atmung mit der Bemerkung abgetan, daß der Mensch mehr Sauerstoff auf normalem Wege einatmen könne, als sein Organismus zu verbrauchen imstande sei.
Der Wahrheit am nächsten kommen dürften jene Universitäts-Dozenten, die dem Sauerstoff-Apparat keinerlei Fabelwirkung, wohl aber eine geringe Beschleunigung im Aufladungsprozeß des Blutes zutrauen. Während der ausgepumpte Mensch gewöhnlich bis zur Dauer einer Viertelstunde Luft schnappen muß, um wieder voll bewegungsfähig zu sein, könnten durch die Sauerstoff-Kur ein paar Minuten eingespart werden, die bei einer Fußball-Pause von fünf bis zehn Minuten schon ins Gewicht fallen würden.
Am wenigsten umstritten ist, so seltsam es scheint, der Effekt, den die Sportler sich einbilden. Fußballer, die mit reinem Oxygen aufgepumpt sind, verraten nicht selten eine euphorische Zufriedenheit. Im Vollbewußtsein ihres chemisch aufgemöbelten Mannestums wuchten sie auf das Spielfeld zurück wie ein Kollektiv tapferer Schneiderlein und gehen dem Gegner dementsprechend an den Kragen.
Die Anwendung der Sauerstoff-Beatmung in Deutschland hängt - darüber sind sich alle Beteiligten klar - vor allem an einer Beantwortung der Frage, ob sie als »Doping"*) anzusehen ist und damit unter den Bann der Sportgerichte fällt. Dabei muß sowohl die medizinische als auch die ethische Seite des Doping-Verbots in Betracht gezogen werden.
Zu Punkt eins sagen die technischen Betreuer des Schweizer Weltmeisterschafts-Kaders: »Sauerstoff, ein Bestandteil der Luft, ist eine natürliche Energiequelle des Organismus. Sauerstoff kann deshalb unter keinen Umständen zu den körperfremden und gesundheitsschädigenden Dopings gezählt werden. Seine Anwendung ist ... ebenso berechtigt wie eine Massage, eine warme Dusche oder sonst eine Maßnahme, die zur Erholung des Organismus führt.« Auch nach Professor La Cava ist das Sauerstoff-Schlucken »nicht als ausgesprochenes Doping zu bezeichnen«.
Zur moralischen Seite des Problems dagegen äußert sich die Schweizer »Tat« scharf kritisch. Sie verweist darauf, daß das Sauerstoff-Inhalieren mit dem Ziel praktiziert wird, den Gegner zu übervorteilen, und schreibt: »Wenn in der Schweiz diese Methode auch Schule machen sollte, geschieht es dann nur zum Nutzen und zum Guten des Sports? Oder geschieht es nicht viel eher mit dem Gedanken, sich so mehr Erfolg verschaffen zu können? ... Wie würden sich wohl die Sportfreunde dazu stellen, wenn zum Beispiel ... in der Leichtathletik neue Langstreckenrekorde dank der Mitführung eines leichten tragbaren Sauerstoffgerätes aufgestellt würden?«
Indessen scheint man an maßgebender Stelle des deutschen Fußballs bereit zu sein, die ablehnende Stellungnahme von 1952 nach den jüngsten Erfahrungen zu revidieren. Bundestrainer Herberger bat nämlich am 9. Mai den Vereinsarzt von Eintracht Frankfurt, Dr. Runzheimer, um ein informatorisches Gespräch über das Sauerstoff-Problem, das in dieser Woche stattfinden soll.
Erklärt Carl Koppehel auf der DFB-Pressestelle: »Wenn wir (zur Weltmeisterschaft) in die Schweiz fahren und die anderen werden mit Sauerstoff aufgepumpt, weiß ich nicht, ob wir es nicht doch ebenso machen sollen.«
*) Als Doping ist nach einer Erklärung des Deutschen Sportärzte-Bundes »jedes Medikament zu betrachten - gleichgültig ob es wirksam ist oder nicht - das mit der Absicht der Leistungssteigerung vor Wettkämpfen gegeben wird«.