Schach-Shootingstar Alireza Firouzja Der Kronprinz

Alireza Firouzja: »Ihm zuzusehen raubt mir den Atem«
Foto: ANP / IMAGODieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Als Alireza Firouzja als »Star des Turniers« auf die Bühne gebeten wurde, war das eine Untertreibung. Mit einem Lachen ging der schmale junge Mann nach vorn und holte sich seine Medaille ab. Der erst 18-Jährige hatte Frankreich zur Silbermedaille bei der Mannschafts-EM geführt. Aber dieser Applaus gehörte nur ihm.
Besonders auf seine letzte Partie gegen den Aserbaidschaner Shakhriyar Mamedyarov hatte die Schachwelt geschaut , denn hier wurde Geschichte geschrieben.
Firouzja siegte nach einem starken Turm-Endspiel und kam damit am Ende auf acht von neun möglichen Punkten, er verlor kein einziges Spiel. Turnierleistungen werden in Elo-Punkten ausgerechnet, Firouzja zählte in Slowenien über 3000 Punkte.
Das sind Sphären, in denen sich die besten Spieler der Geschichte bewegen, der legendäre Bobby Fischer beispielsweise oder der amtierende Weltmeister Magnus Carlsen. Und nun auch der 18-jährige Firouzja.
Er schoss mit dieser Leistung auf den zweiten Platz der Live-Weltrangliste, als bislang jüngster Spieler der Schachgeschichte hat er mehr als 2800 Elo-Punkte. Den Rekord hielt vorher Superstar Carlsen. Der Norweger ist mit 2855 Punkten auch der einzige Spieler, der noch vor Firouzja steht – seinem neuen Kronprinzen.

Alireza Firouzja und Magnus Carlsen bei einer Partie in Wijk aan Zee: Warten auf #CarlsenFirouzja2023
Foto: KOEN SUYK / EPA-EFE»Das ist absolut unglaublich«, twitterte Susan Polgar, die frühere Frauen-Weltmeisterin. Und der ehemalige Weltklassespieler Nigel Short schrieb , Firouzja erhebe den Anspruch, »der größte französische Spieler seit Alexander Aljechin zu sein«, dem vierten Weltmeister der Geschichte.
Ex-Weltmeister Viswanathan Anand, ein bedachter Mensch, der nicht zu Übertreibungen neigt, war hin und weg. »Ihm zuzusehen raubt mir den Atem. Das ist Wahnsinn«, sagte er bei »chess24« .
Vor dem Durchmarsch bei der Mannschafts-EM hatte Firouzja Anfang des Monats bereits das wichtige Grand-Swiss-Turnier in Riga gewonnen und sich für das nächste Kandidatenturnier qualifiziert. Dort wird der Herausforderer für den kommenden Weltmeister ermittelt. »Ich denke, die Leute sind jetzt schon ungeduldig«, sagte Anand. Eine WM zwischen Shootingstar Firouzja und Carlsen werde sehnlichst erwartet. Und Schach-Journalist Tarjei J. Svensen twitterte sehr weit vorausschauend den Hashtag #CarlsenFirouzja2023 .
Carlsen ist der ehemalige Posterboy des Schachs. Er verlieh dem Sport einen frischen Schub an Popularität, als er zum Weltmeister aufstieg. Für sehr viele Menschen ist er nach wie vor das Gesicht des Spiels. Dass sich Fans ein WM-Duell Carlsen gegen Firouzja wünschen, liegt auf der Hand. Doch die Sache hat einen Haken. Ab dem kommenden Freitag muss Carlsen seinen Titel gegen einen ganz anderen Herausforderer verteidigen: Jan Nepomnjaschtschi. Der Russe scheint angesichts des Firouzja-Hypes in den Hintergrund gerückt zu sein. Gegen Carlsen ist er zwar der Außenseiter, einfach abschreiben sollte man ihn aber sicher nicht.
Dass Firouzja das nächste Kandidatenturnier gewinnt und dann den Weltmeister herausfordert, ist angesichts der aktuellen Leistungen realistisch. Er könnte dann der jüngste Weltmeister der Schachgeschichte werden.
Firouzja ist gebürtiger Iraner, er wurde 2003 in Babol geboren und zählte zu den größten Schachtalenten des Landes. Mit gerade einmal 14 Jahren wurde er Großmeister, mit 17 Jahren durchbrach er als zweitjüngster Spieler der Geschichte die Marke von 2700 Elo.
Ex-Weltmeister Viswanathan Anand
Dass er nicht in seinem Geburtsland blieb, hat mit dem Konflikt zwischen Iran und Israel zu tun. Einer, der sich gut an Alirezas Erfahrungen mit diesem Konflikt erinnert, ist Frederic Friedel, der Gründer des Hamburger Software-Unternehmens ChessBase, mit dessen Schachprogrammen Firouzja arbeitet.
2019 beim Schachturnier in Baden-Baden sollte Firouzja gegen den Israeli Or Bronstein spielen. Doch Iran verbietet seinen Sportlerinnen und Sportlern, gegen Israelis anzutreten. Der damals 15-jährige Alireza setzte sich also nicht ans Brett und verlor kampflos. Die Situation habe den Jungen damals sehr mitgenommen, erzählt Friedel im Gespräch mit dem SPIEGEL. Deswegen habe er auch die nächste Partie kläglich verloren.
»Als ich ihn sah, war er so niedergeschlagen«, sagt Friedel. Ein gemeinsames Abendessen mit Alireza und dessen Vater Hamidreza habe er deswegen absagen wollen. Doch der Vater habe auf dem Essen bestanden. Nach kurzer Zeit sei Alireza aufgetaut, der Abend doch noch fröhlich verlaufen.
Abschied aus Iran
Ende 2019 verbot Iran seinen Schachspielern gar komplett, an der Blitz- und Schnellschach-WM teilzunehmen. Der damals 16-jährige Alireza ließ sich das nicht mehr gefallen, trennte sich vom iranischen Verband, spielte unter der neutralen Flagge des Weltverbands Fide – und gewann eine Silbermedaille hinter Carlsen. Später wechselte Firouzja zum französischen Verband, nahm auch die Staatsbürgerschaft an. Heute lebt er mit seiner Familie in Chartres, einer Stadt mit etwa 40.000 Einwohnern südwestlich von Paris.
Mit seinem dynamischen und energischen Spielstil sorgte Firouzja immer öfter auch in Europa für Furore. Doch zu den großen Stars gehörte er bis vor wenigen Monaten nicht. Anfang des Jahres spielte der damals 17-Jährige beim Traditionsturnier in Wijk aan Zee. Während seiner letzten Partie wurden er und sein Gegner aufgefordert, im Spielsaal Platz zu machen für eine Finalpartie. Das ist so, als müssten Tennisspieler in Wimbledon beim Stand von 2:1 auf den Nebenplatz wechseln. Eine Entscheidung, die die Schiedsrichter heute vielleicht nicht mehr so treffen würden.
In Partien ergreift Firouzja gern die Initiative. Ex-Weltmeister Anand lobte ihn bei »chess24« in den höchsten Tönen: »Er ist in der Lage, jede Art von Stellung zu gewinnen. Er ist alles, was man sich von einem Schachspieler wünschen kann. Es ist phänomenal, ihm zuzusehen.« Sein Spielstil reflektiere auch seinen Charakter, sagte der Teenager einmal dem Fachmagazin »New in Chess«. Dabei ist der junge Mann, der auf dem Brett eine Naturgewalt ist, abseits der 64 schwarz-weißen Felder eher ruhig und zurückhaltend.
Auf dem Weg zum Weltmeister?
Firouzja ist nicht nur der Star der EM gewesen. Er ist der neue Star des Schachs. Dass er eines Tages um den WM-Titel spielen wird, scheint nur eine Frage der Zeit zu sein. Bislang konnte der junge Franzose ohne großen Druck spielen. Das wird sich künftig ändern, nun steht er im Fokus. Wie er damit umgeht, muss sich erst noch zeigen.
Klar ist, dass Firouzja nicht lockerlassen wird. »Schach ist für mich ein Spiel, mit dem ich niemals aufhören kann«, sagte er zuletzt nach seinem Sieg beim Grand Swiss: »Hat man Schach einmal gelernt, kann man nicht mehr stoppen.«
Das kann die Konkurrenz als Drohung verstehen.