Schach Die schwere Formkrise des Magnus Carlsen

Schach-Weltmeister Carlsen: »Es war ziemlich schlecht«
Foto: Koen van Weel / AFPWenn Magnus Carlsen über seine Partien spricht, setzt er manchmal einen gequälten Gesichtsausdruck auf. Als würden ihm seine Fehler im Nachhinein Schmerzen bereiten. So wirkte es am Sonntag, als Carlsen am Ende des prestigeträchtigen Schachturniers in Wijk aan Zee zum offiziellen Interview vor die Kamera trat. Da stand der Weltmeister mit zerzaustem Haar, kniff die Augen zusammen, legte die Stirn in Falten, atmete tief ein und rang um Worte.
»Die Gesamtleistung war beschämend«, sagte er, »es war ziemlich schlecht.« Dabei sah das Ergebnis eigentlich nicht so verheerend aus: Nach dem Sieg gegen Maxime Vachier-Lagrave am letzten Tag hatte Carlsen 7,5 Punkte und insgesamt drei Spiele gewonnen. Eine Bilanz, auf die viele Großmeister stolz wären. Magnus Carlsen aber fand sie einfach nur »schrecklich«.
Carlsen ist nicht einer von vielen. Als Weltmeister, Weltranglistenerster und Elo-Rekordhalter spielte er in den vergangenen Jahren auf einem anderen Level als seine Konkurrenten. Er hat höhere Ansprüche an sich selbst – zumal er Ende 2021 seinen WM-Titel verteidigen muss.
In Wijk aan Zee gewann er mehr Spiele, als er verlor. Aber: »Das ist offensichtlich bei Weitem nicht gut genug«, sagte Carlsen, der eigentlich – wie bei jedem Turnier – Favorit war. Doch diesmal triumphierte der 21 Jahre alte Jorden van Foreest.
Schlechter war Carlsen zuletzt 2009
Wie schlecht Carlsens Form im Vergleich zu seinen früheren Leistungen ist, verdeutlicht ein Blick in die Vergangenheit: Sieben Mal hat Carlsen das Turnier in Wijk aan Zee, dem sogenannten »Wimbledon des Schachs«, gewonnen. Diesmal wurde er nur Sechster und holte so wenig Punkte wie seit 2009 nicht mehr. Der Tiefpunkt war die Niederlage gegen den 18 Jahre alten Andrei Jessipenko. In der Weltrangliste verlor Carlsen durch das Turnier 15 Elo-Punkte auf einmal, so viel wie selten zuvor. Mit der Elo-Zahl wird die Spielstärke eines Schachspielers, einer Schachspielerin beschrieben.
Unter besonderer Beobachtung steht Carlsen nach der Enttäuschung von Wijk aan Zee, weil sie auf die bislang beste Phase seiner Karriere folgt. Zwischen 2018 und Oktober 2020 hatte der Norweger 125 klassische Partien in Folge nicht verloren: ein Weltrekord auf dem Niveau.
Carlsen schien unschlagbar, doch dann deutete sich Ende des vergangenen Jahres die Schwächephase langsam an. Drei Onlineturniere in Folge gewann er nicht. Im Dezember flog der 30-Jährige bei einem digitalen Schnellschachturnier bereits im Viertelfinale raus. Danach twitterte er: »Nach einem weiteren Zusammenbruch ist das Fazit, dass ich gerade in einem tiefen Loch bin, und es ist wirklich frustrierend.«
Carlsens Faible für das Online-Schach
Wegen der Corona-Pandemie hatte sich Carlsen dem Online-Schach zugewendet und eine eigene digitale Turnierserie organisiert. Emil Sutovsky, Großmeister und Generaldirektor des Schach-Weltverbands Fide, vermutet darin einen Grund für Carlsens Formschwäche. Die Schnell- und Blitzpartien hätten Carlsens Spiel beeinflusst, twitterte er. »Selbst seine großartige Endspieltechnik kann mit dem neu erworbenen Drang, schnell einen Zug zu machen, nicht umgehen. In dieser Eile verpasst er immer wieder Siege oder Vorteile.«
Nun ist Sutovsky nicht gerade als Freund des Online-Schachs bekannt. Zudem ist fraglich, ob die Konkurrenz – die zuletzt ebenfalls mehr Schnellschach spielte – durch den Trend nicht auch beeinflusst wäre. Möglich ist es aber schon, dass Carlsen die Umstellung vom Schnellschach zu klassischen, langen Partien nicht so gut gelungen ist. Sollte das der Fall sein, könnte es sich noch als Fehler herausstellen, dass Carlsen vor der WM mehr digitale als klassische Turniere spielen will.
Carlsen selbst sagte, er sei in Wijk »nicht so gut in Fahrt gekommen«. Er habe in Eröffnungen schlechte Entscheidungen getroffen, der Spielfluss habe gefehlt und ihm seien zu viele Patzer unterlaufen.
Nun war Carlsen – im Vergleich zu einem Teil seiner direkten Konkurrenten – nie der große Eröffnungsnerd. In jungen Jahren spielte er aggressiv, später entwickelte er sich zu einem Allrounder und wurde als »Boa Constrictor« bezeichnet, weil er seinen Gegnern auf dem Brett buchstäblich die Luft abschnürt. Carlsen versuchte, seine Gegner früh aus dem Konzept zu bringen, um sich dann langsam Vorteile zu erspielen, die er im Endspiel zum Sieg ausnutzen könnte.
Als Carlsen die WM 2018 gegen Fabiano Caruana erst im Tiebreak gewann, war das offenbar ein Signal für ihn. Er merkte, dass er seinen Spielstil umstellen müsste, um weiter erfolgreich zu bleiben. Dank der Inspiration des Schachprogramms AlphaZero und seines Sekundanten Daniil Dubow erkannte Carlsen, dass er risikoreicher spielen könne, mit mehr Figurenopfern und neuen Eröffnungsvarianten. Das mündete im Weltrekord.
Nun hat Carlsen vielleicht wieder ein ähnliches Signal gehört. Will er seinen WM-Titel im Dezember in Dubai erfolgreich verteidigen, muss er zurück zu alter Form finden oder sich noch mal neu erfinden. Genug Zeit dafür hat er, allerdings will er bis dahin nur ein klassisches Turnier spielen. Jan Gustafsson, ein Sekundant Carlsens bei der WM 2018, sagte dem SPIEGEL einmal, der Weltmeister sei ein sehr universeller Spieler, es fiele ihm leicht, seinen Stil zu ändern. Gut möglich also, dass im Dezember ein Magnus Carlsen mit frischen Ideen am Brett sitzt.
Erst einmal muss sowieso Carlsens Herausforderer ermittelt werden, im April soll das Corona-bedingt unterbrochene Kandidatenturnier weitergehen. Dass dort der Respekt vor Carlsen weiter groß sein dürfte, ließ Großmeister und Kandidat Alexander Grischuk, der Carlsens Spiele beobachtete, bei »chess24« durchblicken. »Seine Form ist schrecklich, die schlechteste Form seit vielen Jahren«, sagte er über Carlsen. Trotzdem sei dessen Turnierbilanz positiv: »Deshalb ist er ein großartiger Spieler, selbst in schlechter Form ist er immer noch sehr gut.«