Funktionäre Schatztruhe geöffnet
»Streng vertraulich« war der Bericht gestempelt, den Erich Honecker am 25. August 1986 auf seinen Schreibtisch bekam. Er befaßte sich mit einem Mann, von dem der Staatsratsvorsitzende bis dahin stets eine hohe Meinung gehabt hatte. Juan Antonio Samaranch, hieß es in dem siebenseitigen Papier, führe das Internationale Olympische Komitee (IOC) »wie ein Börsenmakler«. Er schare nur Leute um sich, die »über Geld und Macht verfügen«. Gemeinsam versuche diese Clique, »alle Möglichkeiten, die sich durch den Sport bieten, auszunutzen, um mit Hilfe des Geldes ihren Einfluß zu vergrößern«.
Honecker hätte dem Verdikt wohl kaum große Aufmerksamkeit geschenkt, hätte nicht ein ausgewiesener Freund des Ostens als Quelle für das Dossier gedient: Krupp-Aufsichtsrat Berthold Beitz, zugleich Vizepräsident des IOC.
Beitz war nach Ost-Berlin gereist und beklagte sich bei den höchsten Sportfunktionären der DDR über den Führungsstil von Samaranch. Der Wirtschaftsführer soll sich über das Macht- und Profitstreben des Ober-Olympiers beklagt haben, besonders aber habe ihn das Finanzgebaren des Spaniers gestört. Samaranch, schimpfte Beitz, würde »selbstherrlich über große Summen entscheiden, ohne die Finanzkommission, deren Mitglied er sei, zu fragen«.
Weil er als Stellvertreter von Samaranch diese Finanzpolitik »nicht länger verantworten könne«, machte Beitz in einer Zeit verspannter deutsch-deutscher Sportpolitik einen ungewöhnlichen Vorstoß: Er forderte von den DDR-Funktionären Unterstützung für einen geplanten Kampf gegen den IOC-Präsidenten. Beitz hielt die in der olympischen Welt so verpönte offene Attacke für notwendig, da einer wie Samaranch »nur dann zurückweicht, wenn er bemerkt, daß andere Kräfte ihm entgegenwirken«.
Manfred Ewald, Präsident des Nationalen Olympischen Komitees der DDR, fertigte umgehend einen Bericht für das Politbüro an. Sechs Tage später landete das Dossier auf Honeckers Schreibtisch - und schließlich im SED-Zentralarchiv, wo es jetzt entdeckt wurde.
Warum der Beitzsche Vorstoß scheiterte, ist in den Akten nicht vermerkt. So ist nur zu vermuten, daß der Krupp-Mann die sportliche Geheimdiplomatie weniger gut beherrschte als die Funktionärskollegen. In SED-Unterlagen und Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit finden sich Berichte über Protektion, Liebesdienste und Bestechung der höchsten Sportgremien der Welt.
An Mauscheleien soll neben dem Adidas-Tycoon Horst Dassler auch das derzeitige deutsche IOC-Mitglied, der Anwalt und Samaranch-Zögling Thomas Bach, beteiligt gewesen sein. Bach war damals einer der Direktoren bei Adidas.
Wenn stimmt, was der Inoffizielle MfS-Mitarbeiter »Möwe« penibel festhielt, muß sich der Fecht-Olympiasieger aus Tauberbischofsheim, der in dieser Woche ins IOC-Exekutivkomitee und damit in den innersten Zirkel um Samaranch gewählt werden soll, auf unangenehme Fragen einstellen. Bach, der in olympischen Kreisen zwar als karrieresüchtig, aber unbescholten gilt, habe, so »Möwe«, bei einer der unappetitlichsten Personalentscheidungen des Sportestablishments mitgespielt.
Im Juni 1985 eröffnete Dassler dem Ost-Berliner Karl-Heinz Wehr, daß er ihn als neuen Generalsekretär des Internationalen Amateurbox-Verbandes (Aiba) vorgesehen habe. Der Sportschuhhersteller aus Herzogenaurach, der aufgrund der Finanzkraft seines Unternehmens bei der Besetzung von Führungsposten entscheidend mitreden konnte, brauchte einen Mann aus dem sozialistischen Lager, der genügend Stimmen für die Wahl eines ihm genehmen Präsidenten mitbringen sollte: Dassler wollte unbedingt einen Mitarbeiter des Hauses Adidas, Professor Anwar Chowdhry aus Pakistan, an der Spitze der Aiba sehen.
Die indirekte Herrschaft über den Box-Verband war Dassler immens wichtig. Er und zuvor sein Vater Adi hatten über Jahrzehnte den Weltsport dominiert, auch die Wahl Samaranchs zum IOC-Präsidenten hatte er unterstützt. Doch der eigenwillige Katalane entfernte sich zusehends von seinem Förderer. Die Einflußnahme auf die Fachverbände sollte Adidas die Macht erhalten, dafür wollte er sogar »die Schatzkammer der Firma« öffnen.
Was Dassler nicht wußte: »Möwe« Wehr notierte jeden Winkelzug und meldete ihn der Stasi.
Um den bisherigen Amtsinhaber, den amerikanischen Offizier Donald F. Hull, aus dem Amt zu verdrängen und einen Kandidaten aus Frankreich nicht zum Zug kommen zu lassen, schien Dassler schon die Entscheidung für den Wahlort wichtig: Es sollte unbedingt Bangkok sein. Vor der Abstimmung der Aiba über den Tagungsort wurde, so Wehr, »ein bis dahin fast einmaliger Akt der Wahlbeeinflussung abgezogen ... mit der Organisierung einer alles umfassenden kulturellen Betreuung (Nachtbar, Massage, individuelle Betreuung) wurde ein Wahlergebnis von 24 : 11 Stimmen zusammengezimmert«.
Zugleich habe Dassler, so berichtete »Möwe«, den Herausgeber des Branchendienstes Sport intern mit Material über die Führungsdefizite des Amtsinhabers Hull gefüttert, um »mit der Kampagne gegen Hull« zu beginnen.
Zu einer Strategiesitzung am 24. Juli 1986 lud Dassler nach Luzern. Gleich zu Beginn der achtstündigen Unterredung briefte Dassler die acht Anwesenden, darunter sechs Adidas-Mitarbeiter, darunter laut »Möwe«,auch Bach, es sei eine »Pflicht für Sie, in Bangkok zu siegen«.
Dann widmete sich die Runde mit besonderer Hingabe der Frage, wie man die »Delegierten in Bangkok beschäftigen kann«. Die Hauptlast dieser Aufgabe sollten die »Kontinentalvertreter« von Adidas übernehmen. Bach ist heute »nicht mehr erinnerlich«, an solchen Besprechungen teilgenommen zu haben. Eins aber weiß er ganz sicher: »In meinem Beisein ist über Wahlbeeinflussung nie gesprochen worden, und ich habe auch nie an solchen Aktionen teilgenommen.«
Wehr, den Bach in Atlanta »zur Rede stellen« will, zeigte sich ganz begeistert, daß sich die Adidas-Leute »offensichtlich in solchen Wahlfragen auskennen«. Der Bangkok-Termin wurde denn auch ein Freudenfest. Insgesamt 37 Delegierte reisten auf Kosten von Adidas an. Die Sportartikler verwöhnten die Funktionäre, so notierte Wehr später handschriftlich, durch die Übernahme von »Hotelkosten, Kosten für Barbesuche und für Massage-Institute sowie Zuwendungen in Bargeld«.
Rund 200 000 Mark, schätzte Wehr, habe es sich Adidas kosten lassen, daß Chowdhry mit 6 3 : 32 Stimmen gewählt wurde. Nach der rauschenden Wahlparty sorgte sich Wehr gar um das Seelenleben der ihn begleitenden Dolmetscherin. Sie sei »natürlich ein bißchen schockiert über die Art und Weise der Führung des Kongresses und über die Randerscheinungen«.
Eine weitere Besprechung im Januar 1987 in Paris, an der neben Dassler und Chowdhry auch Bach teilnahm, öffnete Wehr endgültig die Augen über die Macht seiner Gesprächspartner. »Lenker des internationalen Sports heute ist nicht Samaranch«, schrieb der Stasi-Spitzel, »wohl aber Dassler.« Nur daß er fortan mit Chowdhry noch enger zusammenarbeiten müsse, mißfiel dem Berliner. Der Pakistaner sei »charakterlich ein absolutes Schwein, unaufrichtig, hinterhältig und verschlagen«. Daß sich das Paar Wehr/Chowdhry bei dieser Abneigung bis zum heutigen Tag die Führung der Aiba teilt, gehört zu den Mysterien des internationalen Funktionärswesens.
Nach dem plötzlichen Tod von Horst Dassler im April 1987 glaubte die »sportpolitische Gruppe« von Adidas zunächst, daß auch Samaranch in ein Machtvakuum fallen würde. Nach Gesprächen mit Bach, Chowdhry und zwei weiteren Adidas-Mitarbeitern kehrte Wehr mit der Erkenntnis nach Hause zurück, der IOC-Präsident habe »sowohl an Macht als auch an Geld verloren. Man gab ganz offen zu, daß Dassler im Prinzip Samaranch geführt hat«.
Schon wenig später mußten sich die Adidas-Leute ihren Irrtum eingestehen. Samaranch, von dem Dassler einst geglaubt hatte, er werde »an seiner Kälte scheitern«, habe sogar an Macht gewonnen, weil »er in seinem autoritären Streben nicht mehr gebremst werden kann«.
Der alerte Bach wechselte schnell die Seiten: Zum Jahresende 1987 verließ er den Sportartikelkonzern. Samaranch holte ihn zunächst ins IOC und betrieb nun Bachs Wahl in den engsten Beraterkreis.
Die Wahl ins höchste Gremium des Weltsports bedeutet indes kaum größeren Einfluß. Samaranch pflegt in den streng abgeschirmten Sitzungen weiter jene Unart, über die sich bereits Bachs Vorgänger Beitz vor zehn Jahren aufregte. Der IOC-Chef fahre bisweilen allen rüde über den Mund, die sich nicht »seinen Auffassungen unterordnen«.