Doping Schlamm in den Adern
Johannes Draaijer, 27, hatte viel Luft und ein großes Herz. Seine Nase war spitz, die Arme wirkten dünn. Alle Kraft steckte in den Beinen. Am besten fuhr er, wenn der Wind von vorn kam. Die Kameraden vom renommierten holländischen Profirennstall PDM schätzten ihn; er war sich als Wasserträger, als Hiwi der Spitzenreiter, nicht zu schade. 1989 beendete er die Tour de France als 20. Man gab ihm noch ein paar gute Jahre.
Daraus wurde nichts. In der dunklen stürmischen Nacht des 27. Februar 1990 wachte Draaijer morgens um halb fünf mit Herzschmerzen auf. Eine Stunde lang rang er um Luft, dann war er tot. Seine Witwe: »Er hat Erythropoietin genommen.« Sie hoffe, daß sein Tod den anderen Athleten eine Warnung sei.
Ein frommer und vergeblicher Wunsch. Nach Johannes Draaijer starb in Holland als nächster der Radrennfahrer Jef Lahaye. In Belgien, der anderen großen Radsportnation, trug man im letzten Jahr gleich drei Athleten zu Grabe: den Profi Patrice Bar und die beiden leistungsstarken Radamateure Dirk De Cauwer und Gert Reynaert.
Im Jahr davor sind fünf holländische Rennfahrer überraschend verstorben, darunter Bert Oosterbosch, 32. Er war zweimal Weltmeister, 1978 im Straßen-Vierer, 1979 in der Verfolgung. Mehrfach gewann Oosterbosch Tagesetappen bei der Tour de France; 1980 hatte Didi Thurau im bretonischen St. Malo gegen den Sprinter aus Lekkerkerk das Nachsehen. Deprimiert quittierte Thurau die Tour.
1987 und 1988 verloren sieben niederländische und ein belgischer Zweiradsportler ihr Leben, alle in jungen Jahren, mitten im Wettstreit stehend, darunter Connie Meijer, 25. Die junge Frau, Dritte der Straßenweltmeisterschaft, stieg in Naaldwijk bei Rotterdam schwankend vom Rennrad, klagte über starke Übelkeit und starb, bevor der Rettungswagen das Krankenhaus erreicht hatte.
Insgesamt sind 18 belgische und niederländische Radrennfahrer in den letzten vier Jahren überraschend gestorben. »Sie waren jung, austrainiert und mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit gesund«, urteilt der amerikanische Sportarzt Randy Eichner. »Diese Menschen legten sich eines Tages hin und starben. Einfach so. Die Ärzte sagen, sie starben eines natürlichen Todes.«
Unter dem Vortragstitel »Dying to Win« sprach Eichner vorletzte Woche auf dem Kongreß des American College of Sports Medicine, der größten Sportärzte-Vereinigung der Welt. Eichner vor 700 Kollegen in Orlando (Florida): »Wenn das wahr wäre, hätten wir es mit der seltsamsten Epidemie in der Geschichte der Sportmedizin zu tun.«
Einige der Toten wurden auf Wunsch der Angehörigen seziert. Bei keinem fand sich etwas Auffälliges, abgesehen von ihren großen Herzen, doch die gelten bei Radrennfahrern als nichts Besonderes. Der hohle Muskel eines Profis hat manchmal ein Volumen von über 1000 Kubikzentimetern (normal: 350), und er zieht sich in Ruhe oft nur noch 35mal pro Minute zusammen (normal: 60- bis 80mal). 28 Pulsschläge pro Minute, weniger als bei einem Lama, gelten Radsportärzten noch als akzeptabel.
Die übergroßen Herzen neigen zu Rhythmusstörungen und bleiben manchmal einfach stehen, besonders zur Nachtzeit. »Top-Sportler haben immer mal Probleme mit dem Herzen«, sagt Belgiens Radsportarzt Christian Goosens. Tödlich gefährlich wird das Sportlerherz seinem Besitzer jedoch gewöhnlich erst nach Ende der Karriere. Auf den Totenscheinen der 18 jungen Athleten stehen trotzdem allerlei Herzdiagnosen als jeweilige Ursache ihres unerwarteten und frühen Endes.
Sportarzt Eichner mißtraut den offiziellen Totenscheinen. Der angesehene Wissenschaftler, Chef der Hämatologischen Abteilung an der Universität von Oklahoma, hat statt der Rhythmusstörungen einen anderen Verdacht, den gleichen wie Johannes Draaijers Witwe: Erythropoietin, von Ärzten und Sportlern unisono EPO genannt.
EPO ist die neueste und effizienteste Dopingdroge, ein körpereigenes Hormon, sofort wirksam und nicht nachzuweisen. EPO, mutmaßt das amerikanische Fachblatt Velo News, sei die »Atombombe des Radsports«.
Das Medikament, Anfang der achtziger Jahre in USA auf gentechnischem Wege erstmals produziert und seit 1986 in der »klinischen Erprobung«, wird unter die Haut oder in die Vene gespritzt. Die Verträglichkeit ist ausgezeichnet, denn EPO ist, auf das Molekül genau, der Nachbau eines körpereigenen Hormons namens Erythropoietin; es wird in der Niere hergestellt und stimuliert die Bildung der roten Blutkörperchen (Erythrozyten). Diese wiederum transportieren den eingeatmeten Sauerstoff bis zur kleinsten Muskelfaser - je mehr Sauerstoff, desto mehr Leistung.
Die Zahl der roten Blutkörperchen, beim gesunden Menschen fünf Millionen pro Kubikmilliliter Blut, versuchen die Wettkampfsportler aller Fakultäten seit Jahren - auf erlaubte und auf verbotene Weise - nach oben zu treiben: Sie schlucken en masse Eisenpräparate (erlaubt), trainieren am liebsten in großer Höhe oder in Unterdruckkammern (auch erlaubt) oder lassen sich von willigen Sportmedizinern Wochen vor dem Wettkampf Blut abzapfen, das kurz vor dem Start zurückinjiziert wird (sogenanntes Blutdoping, verboten).
EPO macht das alles entbehrlich. Die Droge, in Deutschland unter den Apothekennamen »Erypo« und »Recormon« im Handel, soll nur bei Blutarmut infolge beidseitigen Nierenversagens verordnet werden. Bei den betroffenen Patienten, die meist regelmäßig an die künstliche Niere angeschlossen werden müssen, sinkt die Zahl der roten Blutkörperchen mangels körpereigenen Erythropoietins auf lebensgefährlich niedrige Werte. Eine EPO-Injektion wendet die Situation innerhalb von Stunden zum Besseren. EPO, sagen die Nierenspezialisten, sei wirklich ein fabelhaftes Medikament - wenn man die richtige Dosis wähle und Blutbild, Blutdruck sowie Elektrolyte fachmännisch und regelmäßig überwache.
EG-weit darf EPO inzwischen von jedem Arzt rezeptiert werden. Eine Kontrolle findet nicht statt, das Tor zum Mißbrauch steht weit offen. Sportarzt Professor Joseph Keul, mehrfach Chefarzt bundesdeutscher Olympia-Mannschaften, rühmt der Droge nach, sie sei »bei richtiger Anwendung ungefährlich« und könne »das Höhentraining durchaus ersetzen«. Keul, der früher schon zum Anabolika-Konsum ermuntert hatte, ist sich mit dem obersten deutschen Radfahrerarzt Georg Huber einig. Der sagt: »Ich glaube nicht, daß man mit physiologischen Mengen von EPO einen Schaden setzen kann.« »Physiologische Mengen« sind dopenden Sportlern aber erfahrungsgemäß zuwenig. »Der Radsport ist zu einem einzigen Drogenmarkt verkommen«, behauptet der französische Ex-Weltmeister Daniel Morelon, »man kann die Radsportler sämtlicher Nationen schlicht süchtig nennen.«
Alle großen Radrennfahrer - Eddy Merckx, Jacques Anquetil, Felice Gimondi, Dietrich Thurau - sind wegen Dopings bestraft worden. Den deutschen Rad-Heros Rudi Altig nannte der Tour-Arzt eine »rollende Apotheke": In seinem Urin drängelten sich zwölf Arzneistoffe.
Viel hilft viel - das ist der Glaubenssatz aller Rennradler. Früher warfen sie so viel Amphetamin ("Dynamit") ein, daß sie tagelang schlaflos im Lattenoval der Sechs-Tage-Bahnen kreisten. Heute drücken sie Anabolika und dazu noch das Nebennierenrindenpräparat Kortison. »Mancher«, räumt Sportarzt Huber ein, »hat schon 2000 Milligramm Prednison genommen, um bei der Tour über den Mont Ventoux zu kommen.« Diese Dosis reicht aus, um einem schwerkranken Asthmatiker gut zwei Monate lang Luft zu verschaffen.
»Erypo 2000«, das deutsche EPO-Präparat der Pharmafirma Cilag, wird en bloc in sechs Durchstechfläschchen zum Preis von 487,99 Mark abgegeben. Dafür erhält man je 2000 Einheiten EPO pro Fläschchen. Das ist eine Wirkstoffmenge, die einen Nierenkranken aus dem lebensgefährlichen Blutmangel schnell in gesunde Höhen katapultiert - einen gesunden Athleten befördert die gleiche Dosis womöglich ins Grab, denn es werden blitzschnell Milliarden zusätzlicher roter Blutkörperchen gebildet. Eichner in Orlando: »Statt Blut fließt dann Schlamm in den Adern.«
Zuviel EPO, so räumen auch die Produzenten ein, ändere die »Fließeigenschaften« des Blutes. Hämatologe Eichner sagte es sehr viel plastischer: »Das Blut verklumpt, verschließt die Gefäße, und dann wird es ganz zu Stein.«
Beschleunigt wird das Desaster durch den extremen Flüssigkeitsverlust der Ausdauersportler. Wassermangel dickt das Blut zusätzlich ein. Analysen, die Aufschluß über die Anzahl der roten Blutkörperchen geben würden, sind bei den verstorbenen Radsportlern nicht vorgenommen worden. Nach EPO hat man gar nicht erst gefahndet - das Hormon, ohnehin nur von Spezialisten zu finden, baut sich innerhalb weniger Stunden ab. Aus der Sicht der Dopingsünder ist dies ein besonders erfreulicher Umstand. Dopingfahnder Manfred Donike ahnt auch schon, was das bedeutet: EPO werde, meint er, »im Hochleistungssport weiter Karriere machen«.
Erfahrungsgemäß gehen die Radrennfahrer anderen Spitzensportlern mit schlechtem Beispiel nur voran. »Wenn ein Medikament in die Rote Liste kommt«, das Verzeichnis aller zugelassenen Arzneimittel, »dann geben wir es schon wieder auf«, hat Rudi Altig einst gescherzt.
Belgiens Radsportarzt Goosens hat seine Schützlinge im Fernsehen vor EPO gewarnt. Seither ist keiner mehr gestorben. Unter ärztlicher Anleitung steigerten jedoch 15 schwedische Athleten _(* Dopingopfer Dressel. ) ihre Ausdauerleistungsfähigkeit dank EPO um satte zehn Prozent. Das spricht sich schnell herum.
»Ich habe von EPO schon längst durch die Buschtrommeln der Langstreckler erfahren«, gestand John Treacy, der irische Silbermedaillengewinner im Marathonlauf von Los Angeles und Teilnehmer der Podiumsdiskussion anläßlich des Eichner-Referats.
Auch die Schwimmer, Skilangläufer und Ruderer sind bereits hellhörig geworden. Gesprächsweise traut man vor allem den Russen EPO-Doping zu - ein falscher Verdacht, denn der Schuß ist für arme Sowjetsportler viel zu teuer. Karriere macht die Droge derzeit vor allem in Westeuropa und in den USA. »Dying to win«, bereit, für den Sieg zu sterben, sind nach Eichners Erkenntnissen Tausende von Spitzenathleten. Radfahrer bringen das auf die selbstironische Formel: »Lieber tot als Zweiter.«
Alles eine Frage der richtigen Dosis. Clevere Sportmediziner, dopingerfahren und den Wettkämpfern allzeit gefällig, haben die optimale EPO-Menge bereits ausgetestet. Bis sie sich zum letzten ehrgeizigen »Breitensportler« herumgesprochen haben wird, muß mit weiteren Toten gerechnet werden. »Wo soviel Rauch ist, ist viel Feuer«, sagt Eichner.
Offiziell ist EPO seit letztem Jahr auf dem Dopingindex. Offiziell gibt es in Deutschland auch keine EPO-Dopingtoten. Zwar sind 1990 beispielsweise vier junge deutsche Radrennfahrer, die als »Kader« galten, überraschend schnell gestorben. Nein, nein, nicht an EPO, schwört Radarzt Huber, sondern am kranken Herzen.
* Dopingopfer Dressel.