VERWALTUNG Schlechtes Klima
Die absurde Szene schien einem modernen Theaterstück entnommen zu sein: Ein gedrungener, athletischer Mittdreißiger näherte sich der Villa Mon Repos in Lausanne. Er fand die Tür verschlossen. Sein Schlüssel paßte nicht. Niemand öffnete auf sein Pochen. Resigniert kehrte er um. Tag für Tag wiederholte er seinen vergeblichen Versuch drei Monate lang.
Das verschlossene Gebäude ist seit 50 Jahren Hauptquartier des Internationalen Olympischen Komitees (IOC); der abgewiesene Besucher ist der teuerste Angestellte der Olympia-Organisation, der Schweizer IOC-Generalsekretär Eric Jonas. Seine nächsten Mitarbeiter hatten das Türschloß ändern lassen, um ihm den Zutritt in sein Büro zu verwehren.
»Meine Geduld ist erschöpft«, drohte der im Oktober 1964 eingestellte und seit April 1965 von seinem Arbeitsplatz ausgesperrte Schweizer. »Mir bleibt nur übrig, vor Gericht zu klagen.« Kommt es zum Prozeß gegen den Jonas-Arbeitgeber, den amerikanischen IOC -Präsidenten Avery Brundage, müßte gerichtlich geklärt werden, warum es um die »administrativen Verhältnisse im IOC nicht gut bestellt ist« (so der Präsident des deutschen Olympia -Komitees, Willi Daume).
Den Hilfskräften in der IOC-Geschäftsstelle in Lausanne waren Aufgaben und Akten in den letzten Jahren über den Kopf gewachsen: 122 Nationale Olympische Komitees sind vom IOC anerkannt worden, mehr als die Uno Mitglieder hat (117). Auch die 45 Welt -Fachverbände trachten als olympische Lobby Einfluß auf das olympische Wettkampf-Programm und die olympische Organisation zu erlangen oder ihn zu verstärken. Wichtige Fragen blieben monatelang ungelöst Alle Entscheidungen traf IOC-Präsident Brundage. Er lebt 8000 Kilometer von der IOC-Zentrale entfernt: in Chicago.
Bis 1964 überwachte ein unbezahlter IOC-Kanzler die Geschäftsstelle - neben seiner eigentlichen Berufsarbeit. Letzter Kanzler war der Schweizer Otto Mayer, ein wohlhabender Lausanner Juwelier. Er leitete Pressekonferenzen für den Präsidenten und erledigte die notwendige Verwaltungsarbeit. Mayer setzte sogar verschiedentlich aus seinem Privatvermögen zu.
Doch bei den Olympischen Winterspielen 1964 in Innsbruck streikte Kanzler Mayer. Er gab Arbeit und Titel auf. Grund: Ohne Mayer zu verständigen, hatte IOC-Präsident Brundage eine Dame, die er in der Schweiz kennengelernt hatte, als neue Angestellte für das IOC-Büro in Lausanne engagiert: Miriam Meuwly, 30. Der Anstellungsvertrag war sogar von ihr selber geschrieben worden.
Mayer reiste noch während der Winterspiele demonstrativ ab und nahm nicht einmal mehr die japanische Einladung zu den Olympischen Sommerspielen in Tokio wahr. Sein letzter Dienst für das IOC war eine Empfehlung: Er schlug Eric Jonas, den er aus dem Rotary Club kannte, zum Nachfolger vor. Jonas war bis dahin Syndikus der Schweizer Uhrenindustrie in Biel gewesen. Der IOC-Kongreß bestätigte den früheren Ruderer und Judokämpfer als Generalsekretär und ersten vollbezahlten leitenden IOC-Angestellten.
Einen schriftlichen Vertrag - wie seine Untergebene Meuwly - mit festgelegten Rechten und Pflichten bekam er freilich nie. Der emsige Jonas entwickelte sofort in Interviews seine Pläne. Er wollte die linkerhand geführte Geschäftsstelle in einen modernen Bürobetrieb verwandeln und nach rationellen Geschäftsprinzipien endlich eine Kontaktstelle zwischen dem IOC, den Nationalen Olympia-Komitees und den Sport-Fachverbänden schaffen.
Doch bei Brundage geriet Jonas mit seiner Initiative ins Abseits. Der Präsident verbot ihm, Interviews zu geben. Überdies entdeckte Jonas, daß seine Post und seine dienstlichen Telephonate in der Villa Mon Repos überwacht wurden wie er vermutete, von seiner Widersacherin Miriam Meuwly, die auf Brundage beträchtlichen Einfluß hatte. Ihr hatte der IOC-Chef angeblich den Posten einer Generalsekretärin zugesagt.
»Persönliche Ambitionen sind mit im Spiel«, beschrieb der deutsche Sport-Präsident Daume die Situation, »aber auch Generationsprobleme.« Die erste öffentliche Bewährungsprobe beim
Olympia in Tokio wurde für Jonas, 36, zum Fiasko. Brundage, 78, erteilte ihm »strenges Redeverbot« (Jonas). So verprellte er ohne eigene Schuld alle Journalisten, denen er Auskünfte verweigern mußte. Jonas: »Ich durfte nur die Aktenmappe tragen.«
Jung-Olympier Jonas hatte sich bei der ersten Gelegenheit das Mißtrauen des Alt-Olympiers Brundage zugezogen: Der Schweizer unterhielt sich mit südamerikanischen IOC-Mitgliedern auf spanisch (Jonas spricht außerdem deutsch, französisch, englisch und italienisch). Der dabeistehende Brundage verstand kein Wort. Nach den Olympischen Spielen wurde erst recht jede Jonas-Initiative blockiert. »Ich brauchte für jede Maßnahme die Genehmigung des Präsidenten«, beklagte sich der Generalsekretär ohne Vollmachten. »Und der Weg nach Chicago ist weit.«
In einem Brief vom 11. März 1965 verlangte Brundage von Chicago aus eine Unterredung mit dem Schweizer IOC-Mitglied Albert Mayer, einem Bruder des früheren IOC-Kanzlers. »Eine Zusammenarbeit mit Jonas«, schrieb der Amerikaner, »ist unmöglich.«
Brundage entledigte sich des »unermüdlichen Schaffers« (Albert Mayer) bei der nächsten Sitzung des IOC-Exekutivkomitees am 13. April in Lausanne. »Nach lebhafter Diskussion« (so der Schweizer »Sport") hatte der amerikanische Millionär sich durchgesetzt. Jonas wurde wie ein glückloser Bundesliga -Trainer entlassen, ohne selber gehört worden zu sein. Die Olympier legten ihm allerdings nahe, von sich aus - um das Gesicht zu wahren - zu kündigen. Dafür sollte er drei Monatsgehälter als Abstand bekommen.
Doch Jurist Jonas eilte weiterhin dienstbeflissen ins Büro, um seine Rechtsposition zu behaupten: »Der IOC -Kongreß hat mich auf vier Jahre angestellt. Deshalb kann mich das Exekutivkomitee nicht entlassen.«
Brundage erschien in der IOC-Dienststelle und forderte Jonas auf, seinen Arbeitsplatz zu räumen. Dann lancierte er in der Presse, Jonas wolle zurücktreten. Jonas dementierte öffentlich. »Wir möchten einen Skandal vermeiden«, erklärte der Schweizer IOC -Schatzmeister Marc Hodler. »Deshalb versuchten wir eine gütliche Regelung.« Weder Brundage noch Jonas gaben nach.
Am 1. Mai wurde Jonas das Gehalt gesperrt und er selber aus dem IOC -Hauptquartier ausgeschlossen. Einen neuen Generalsekretär lehnte Brundage ab. Bei der letzten IOC-Tagung im Oktober in Madrid leitete er die Pressekonferenzen selber und war sein eigener Sekretär. Im Impressum des offiziellen IOC-Bulletins erschien Brundage-Protegé Miriam Meuwly anstelle von Jonas als Herausgeberin und verantwortliche Redakteurin.
Seine Abneigung gegen Jonas übertrug Brundage offensichtlich auch auf Lausanne. Die nächste IOC-Sitzung 1966 ließ er nach Rom verlegen. Begründete der IOC-Präsident: »In Lausanne ist das Klima zu schlecht.«
IOC-Sitz Villa Mon Repos in Lausanne: Den Chef ausgesperrt
IOC-Präsident Brundage
Der unermüdliche Schaffer ...
Entlassener IOC-Generalsekretär Jonas
... durfte nur Aktenmappen tragen