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KAMPFSPORT Schlesische Schlachten

In Kreuzberger Hinterhöfen üben sich Jugendliche im Straßenkampf - die Polizei rätselt noch, ob es Sport ist oder Körperverletzung.
aus DER SPIEGEL 50/2007

Treffen Mahmuds Fäuste das Kinn seines Gegners, hallt es dumpf durch den Hinterhof im Wrangelkiez von Kreuzberg. Knochen auf Fleisch, das klingt, als ob jemand Schnitzel flach klopft. »Mach weiter, du Opfer!«, brüllt einer der Zuschauer auf dem kleinen Bolzplatz. Die Stirn von Jamal, dem Gegner, schwillt an, rötet sich, aus der Nase quillt Blut.

Testosteron liegt in der Luft und Kinderlachen. Knapp 50 Jugendliche schauen zu, ein paar filmen mit ihrem Handy. Eingehegt von einem Drahtgestell, wirkt der Bolzplatz wie eine Voliere in einem Tierpark. Auf der Latte eines der beiden Fußballtore sitzen Kinder, Mädchen und Jungs, vier, fünf Jahre alt. Was sie hier sehen, ist eigentlich Körperverletzung, rohe Gewalt. Für die Jugendlichen aber ist es Sport. Der Sport, der am besten passt zu ihrem Leben, ihrem Viertel. »Wenn du hier aufgewachsen bist, musst du dich durchsetzen können«, sagt Mahmud.

Sie treffen sich zwei-, dreimal im Monat, auf Zuruf improvisieren sie Turniere in den Höfen, Parks und Hinterzimmern von Kreuzberg. Die Regeln für den Kampf sind so vage wie ehern: keine Waffen, nicht beißen, nicht an den Haaren ziehen, nicht auf einen am Boden liegenden Gegner eintreten, keine Tiefschläge. Mahmud findet, »die Eier sind das Wichtigste, was ein Mann hat«.

Verloren hat, wer niedergeschlagen wird und liegen bleibt. Oder die Menge bestimmt nach drei gefühlten Minuten einen Sieger. Es gibt keinen Schiedsrichter, über Sieg oder Niederlage entscheidet die Gruppe. Manchmal wird mit Boxhandschuhen gekämpft oder Bandagen; während zwei kämpfen, warten die anderen auf den Einsatz. Sie bilden den Ring für den Kampf, weichen zurück, wenn einer der Kämpfer getrieben wird. Sie tragen Gangsterlook und Sportkleidung, ihre Körper sind sehnig, gestählt in Fitness-Clubs und Kampfsportvereinen oder mit 500 Sit-ups morgens nach dem Aufstehen. »Ich will doch keine Bierwampe wie die ganzen Deutschen«, sagt Mahmud.

Die Jugendlichen nennen sich Schlesier, weil sie alle im Kiez rund um das Schlesische Tor aufgewachsen sind. Die meisten von ihnen sind libanesische Kurden. Aber auch Türken oder Albaner können Schlesier sein. Fast alle sind Muslime. Der Ausländeranteil hier beträgt 40 Prozent, jeder fünfte Bewohner ist arbeitslos, unter den Jugendlichen sogar jeder vierte. Mahmuds Eltern sind libanesische Kurden, er ist in Berlin geboren, hat einen deutschen Pass und ist 18 Jahre alt. Jamal, sein Gegner, ist 15, seine Eltern sind marokkanische Franzosen, er hat sieben Jahre lang in einem Kickbox-Verein das Kämpfen gelernt. Seit er bei einem Turnier seinem Gegner mit einem unerlaubten Kopfstoß das Trommelfell zerfetzte, ist er für offizielle Fights gesperrt. Im Nahkampf hat Mahmud gegen Jamal keine Chance, denn er hat das Kämpfen nur auf der Straße gelernt.

Mahmud nennt seinen Sport »Straßenkampf«. Es gibt keinen Verband, es gibt kein Preisgeld, Mahmud hat keinerlei Ambitionen, mal ein Profi im Ultimate Fighting zu werden, das in den USA populär geworden ist. Sein Sport ist für Mahmud eine Art Training für den Alltag: »Wenn jemand meine Familie beleidigt. Oder meine Ehre.«

Sie kämpfen unter Freunden, vor dem Kampf küssen sie sich dreimal auf die Wange: »Egal was gleich passiert, ich bin dein Freund.« Wenn sich einer verletzt, was schon mal vorkommen kann, wird im Krankenhaus erzählt, er sei die Treppe hinuntergefallen. Wer zur Polizei geht, verliere seine »Ehre als Mann«, sagt Mahmud. »Unter uns gibt es Grenzen. Wir schlagen uns nicht tot. Einem anderen könnte das schon passieren.«

Gary Menzel ist als Leiter der Polizei im Abschnitt 53 zuständig für den Wrangelkiez. Es gebe, sagt er, eine »Mauer des Schweigens«, Anwohner meldeten verabredete Schlägereien zwischen Jugendlichen nicht. »Die Grenzziehung ist auch schwer für uns: Was ist Sport, und wo fängt die gefährliche Körperverletzung an?« Und selbst wenn Menzel und seine Kollegen derartige Prügeleien auflösen, werden die Verfahren gegen die Hobbyschläger oft von der Staatsanwaltschaft eingestellt.

Nach dem Kampf treffen sie sich in einem Café. Mahmud zieht an einer Wasserpfeife, dicke Schwaden durchziehen den Raum. »Es ist sehr wichtig, dass ich beim Kämpfen oft gewinne«, sagt er. Die Kämpfe gegen die Freunde verschafften ihm Respekt. Mahmud ist schon mehrmals wegen Körperverletzung angezeigt worden. Damals war er noch nicht 18. Die höchste Strafe waren vier Wochen Jugendarrest. Er habe einen Russen niedergestochen, der seine Schwester küssen wollte: »Ich musste die Ehre der Familie verteidigen. Ich bin stolz, dass ich es getan habe.«

Vor zwei Jahren hat er seinen Hauptschulabschluss gemacht, seitdem sucht er eine Lehrstelle, im Moment arbeitet er in einem Dönerladen. Er sagt, dass er sein Leben in den Griff bekommen wolle, trotz seiner Fünfen im Abschlusszeugnis, seines schlechten Deutschs und seiner Knastvergangenheit. Was er noch gut kann, außer schlagen? »Mit Mädchen reden und Komplimente machen.«

Die Zukunft? Alles sei möglich, sagt Mahmud: Familie oder Knast. »Vielleicht muss ich irgendwas arbeiten, das mit Schlagen zu tun hat.« CHRISTOPH WÖHRLE

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