FUSSBALL Schlicht und schlecht
In einem ist Bundestrainer Jupp Derwall schon Weltmeister: in der Verdrängung blamabler Ergebnisse. Weder die Niederlagen binnen eines Jahres gegen die Fußballzwerge Algerien, Nordirland und Portugal noch Hohn und Spott der Fans können den Verlierer der Saison erschüttern.
»Nach solchen Pleiten kann es nur noch besser werden«, tröstet der um keinen hohlen Spruch verlegene Derwall die Spieler, die noch zu ihm kommen. Die Stars vom Europacupsieger und Deutschen Meister Hamburger SV, Felix Magath und Manfred Kaltz, wollen erst dann wieder für Deutschland spielen, wenn ein anderer als Derwall Bundestrainer ist.
Doch Derwalls Arbeitgeber, der Deutsche Fußball-Bund (DFB), will den noch bis 1986 laufenden Vertrag mit dem Bundestrainer einhalten. Denn in Deutschland wird ein Fußballbundestrainer nicht vorzeitig entlassen. »Nibelungentreue im Fußball«, warnt der Wiener Trainer Max Merkel, »endet fast immer mit Nie-gelungen-Spielen.«
Bis 1986 steht den Fußballdeutschen noch viel bevor. In den Heimspielen gegen Österreich am 5. Oktober und gegen Nordirland am 11. November muß der Europameister siegen, damit er 1984 in Frankreich an der Endrunde um die Europameisterschaft teilnehmen darf. Dann folgen die Qualifikationsspiele für die Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko.
Vor dem Heimspiel gegen Österreich am kommenden Mittwoch in Gelsenkirchen spricht Derwall sich und seinen Spielern schlicht und schlecht Mut zu. Derwall über die Österreicher: »Die sind zu packen.« Derwall über die Nordiren nach deren 3:1-Sieg über Österreich: »Die sind nur auf ihrer Insel so stark.«
Je siegesgewisser Derwall war, um so kräftiger irrte er. »Alle fünf deutschen Klubs kommen weiter«, tippte der Bundestrainer vor der ersten Runde im Europapokal-Wettbewerb 1983/84. Nur drei schafften es. »Der Glaube an das Gute im deutschen Fußball«, erklärt Max Merkel, »verleitet den Jupp dazu, die Nationalmannschaft mit einem Heinzelmännchen-Service zu verwechseln, der alle Probleme über Nacht von selbst erledigt.« Als Derwalls Bundesequipe auch beim 1:1 gegen Ungarn versagte, bat »Bild": »Derwall, sei gnädig, geh!«
Ehe Derwall 1978 Bundestrainer geworden war, hatte der deutsche Fußball Weltruf erlangt. Die Bundestrainer Sepp Herberger und Helmut Schön galten als Vorbilder und verbrachten viel Zeit mit Vortragsreisen durch die Welt. Sowohl unter Herberger 1954 als auch unter Schön 1974 waren die Deutschen Weltmeister geworden.
Zwar büßten die Deutschen ihren Weltmeistertitel 1978 ein, aber Nachfolger Derwall übernahm eine intakte Mannschaft. In seinen ersten 23 Länderspielen gab es keine Niederlage. Zur Europameisterschaft 1980 in Italien zogen die Deutschen mit zwei neuen Stars, dem Spielmacher Bernd Schuster und dem Torjäger Horst Hrubesch. Außerdem gehörte der Hamburger Spielregisseur Felix Magath dazu.
Doch Derwall schwebte eine ganz andere Formation vor. Sein Spielmacher hieß Hans Anton ("Hansi") Müller vom VfB Stuttgart, »weil der von allen am Ball am meisten kann«. Dem Hamburger Magath teilte Derwall noch vor dem ersten Spiel mit, daß er nur Ersatzspieler sein werde.
Auch Bernd Schuster verbannte Derwall im ersten Spiel zugunsten Müllers auf die Ersatzbank. Derwall: »Der Hansi muß ungestört sein Spiel machen können.«
Das Auftaktspiel gegen die CSSR mit Müller als Dirigent verlief enttäuschend. Erst eine Einzelaktion des Stürmers Karl-Heinz Rummenigge führte zum 1:0-Sieg. Im zweiten Spiel gegen Holland bot
Derwall auf Wunsch der meisten Spieler Bernd Schuster auf. Die Deutschen siegten 3:2 im besten Spiel des Turniers und wurden Europameister.
Doch dann zerfiel die deutsche Mannschaft. Vor einem Länderspiel gegen Österreich schwankte Bundestrainer Derwall zwischen mittlerweile vier Dirigenten. Außer Schuster und Müller drängten sich der Hamburger Magath, weil in Hamburg gespielt wurde, und Paul Breitner auf, den sich der entscheidungsscheue Derwall als Befehlshaber auf dem Rasen herangeholt hatte.
Vor dem Spiel überließ es Derwall seinen vier Spielmachern, unter sich selbst die Aufgaben zu verteilen. Breitner nahm eine Streichholzschachtel und demonstrierte anhand von vier Zündhölzern, wie gespielt werden sollte. Natürlich übernahm Breitner selbst die Führungsrolle. Doch im Spiel spielte sich Schuster in den Vordergrund. Die Deutschen siegten 2:0. Schuster wechselte für 3,6 Millionen Mark zum FC Barcelona.
Als Derwall weiter an Breitner als Chef in der Mannschaft festhielt, kündigte Schuster seine Mitarbeit auf ("Ich bin nicht Breitners Rasenmäher"). Nun reiste der DFB-Präsident Hermann Neuberger nach Barcelona zu Schuster und überredete ihn, in die Nationalmannschaft zurückzukehren.
Aber eine schwere Verletzung hinderte Schuster daran, an der Weltmeisterschaft 1982 teilzunehmen. Weder Breitner noch Müller bewahrten Derwall vor dem Reinfall. Die schlecht vorbereitete und falsch zusammengestellte Mannschaft bot nur unansehnliche Spiele, auch wenn sie das Endspiel erreichte, das sie 1:3 gegen Italien verlor.
Während Derwall bis jetzt jegliche Verantwortung ablehnte und behauptete, er habe sich »nichts vorzuwerfen«, zogen seine Stellvertreter die Konsequenzen. Erich Ribbeck weigerte sich, mit Derwall weiterhin zusammenzuarbeiten.
Er trainiert jetzt für den DFB die Olympiaauswahl und holt vorwiegend Spieler wie William Hartwig ("Der Derwall hat keine Ahnung vom Fußball"), die beim Bundestrainer nicht gelitten sind. Trainer Dietrich Weise, der mit seiner Junioren-Nationalmannschaft sowohl Weltmeister als auch Europameister geworden war, trainiert jetzt in der Bundesliga den 1. FC Kaiserslautern.
Derwall hat nie einen Bundesligaklub trainiert, was viele auch als einen Grund seiner Führungsschwäche ansehen.
Daß Derwall dennoch Bundestrainer geworden ist und bis 1986 bleiben soll, verdankt er dem DFB-Präsidenten Hermann Neuberger, der sich selbst als »Chef des Lehrstabes« bezeichnet und keinen Toptrainer unter sich haben möchte, dem er nicht ins Amt hineinregieren kann.
Als Neuberger 1978 bei der WM in Argentinien nach einem mäßigen 0:0 gegen Polen ankündigte, er müsse »mal bei der Nationalmannschaft nach dem Rechten sehen«, verlangte und bekam Derwalls Vorgänger Helmut Schön in einer Pressekonferenz offiziell bestätigt, daß allein der Bundestrainer die Richtlinien der Nationalmannschaft bestimmt. Soviel Widerspruch muß Neuberger bei Derwall nicht mehr befürchten.
Deshalb erhielt auch ein Bundesligatrainer niemals den Auftrag, die Nationalmannschaft zu übernehmen. Weder Hennes Weisweiler, der mit Borussia Mönchengladbach und dem 1. FC Köln vier deutsche Meistertitel gewonnen hatte, noch Dettmar Cramer, der mit Bayern München Europacupsieger geworden war, bekamen das Angebot, Bundestrainer zu werden. Kein deutscher Trainer, auch wenn er in 20 Jahren Bundesliga seine Mannschaft zum Deutschen Meister gemacht hatte, weder Georg Knöpfle noch Willy Multhaup, weder Udo Lattek noch Helmut Johannsen, stand jemals als Bundestrainer zur Diskussion.
»Das Beste vom Besten wäre für die deutsche Nationalmannschaft gerade gut genug«, meinte Georg Knöpfle, der 1964 mit dem 1. FC Köln als erster in der Bundesliga den deutschen Meistertitel errang.
Doch die Nationalmannschaft wird weiter ohne einen Spitzentrainer auskommen müssen. Auch die jungen Trainerstars wie Otto Rehhagel vom SV Werder Bremen oder Timo Konietzka von Bayer Uerdingen, die ihre Aufsteiger zur Bundesliga im Schnellverfahren zu Spitzenteams entwickelten, stehen nicht zur Debatte.
Mittlerweile ist die Position des Bundestrainers in der Derwall-Ära nicht nur zur Planstelle mit Versorgungscharakter verkümmert, sondern auch für Toptrainer uninteressant geworden. Bei Bundesligaklubs verdienen sie zwischen 20 000 und 35 000 Mark monatlich. Derwall beim DFB gibt sich mit 11 000 Mark zufrieden. Nach Ribbeck und Weise plant auch Juniorentrainer Berti Vogts den Ausstieg aus dem DFB-Verband. Er will seinen Vertrag nicht mehr verlängern. Vogts' Begründung: »Die Bundesliga reizt mich mehr.«
In der Nationalmannschaft treffen vor dem Spiel gegen Österreich am kommenden Mittwoch zwei Spieler die Entscheidung über Aufstellung und Taktik: Bernd Schuster und Karl-Heinz Rummenigge. »Es muß jetzt einiges anders werden«, kündigte Rummenigge an, dann fügte er hinzu: »Wenn ich an Derwalls Stelle wäre, könnte ich mir vorstellen, daß ich über meinen Rücktritt nachdenken würde.«
Doch Derwall tritt nur in den Hintergrund. Spieler Schuster entschied: »Wir müssen moderner spielen als zuletzt, statt mit drei Sturmspitzen nur noch mit zweien.« Nur eine Derwall-Methode können sie so schnell nicht aufgeben: die Manndeckung.
Die besten Mannschaften der Welt, so auch der Hamburger SV und Bayern München, spielen schon seit Jahren mit der kräftesparenden Raumdeckung. Doch schnell fand Schuster heraus: »In Derwalls Kader sind zu viele Spieler, die an Raumdeckung nicht gewöhnt sind.« Der Bundestrainer bagatellisiert die Mängel und versichert: »Wir siegen, denn die Österreicher sind noch schlechter als wir.«