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Schön muskulös, aber tot

Der plötzliche Tod des ehemaligen Hammerwerfers Detlef Gerstenberg hat die Liste der Sportler, die an den Folgen des Anabolika-Dopings gestorben sind, um einen Fall verlängert. Bereits mehr als hundert Athleten, schätzen Experten, haben weltweit ihren Ehrgeiz mit dem Leben bezahlt.
aus DER SPIEGEL 5/1993

Der Stoff zerstörte seinen Körper neun Jahre unmerklich, dann war Detlef Gerstenberg tot. Gestorben an den Spätfolgen der Tabletten, die sie ihm in seinen Glanzzeiten wie das tägliche Brot auf den Tisch gestellt hatten. Detlef Gerstenberg wollte, wie so viele Sportler vor und nach ihm, stark und berühmt werden.

Der Hammerwerfer aus Eisenhüttenstadt sollte bei Olympia 1984 in Los Angeles eine Medaille gewinnen. Dazu wurden seine Muskeln gemästet, wie es in der DDR Brauch war: mit dem Hausmittel Oral-Turinabol. Der Junioren-Europameister schluckte das Anabolikum vor den Spielen 34 Wochen lang, 10 Wochen mehr als im Vorjahr und mit einer um 50 Prozent gesteigerten Dosis.

Detlef Gerstenberg wurde stark - seine Bestleistung kletterte um fast vier Meter. Er warf mit 80,50 Metern DDR-Rekord.

Detlef Gerstenberg wurde nicht berühmt - die DDR boykottierte die Sommerspiele. Der Rekordwerfer, der beim Stasi-Klub Dynamo Berlin trainierte, beendete daraufhin seine Karriere.

Detlef Gerstenberg, 35, starb am vorletzten Sonntag in der Berliner Charite an schweren Schäden der Leber und der Bauchspeicheldrüse. Am Ende war der Sportler von 120 auf 43 Kilogramm abgemagert. Für seinen Vater ist die Todesursache klar: »Das Doping brachte meinen Sohn um.«

Vor Jahren hatte der Leichtathlet seinem Vater ("Ich verfluche den Tag, an dem ich Detlef bei Dynamo angemeldet habe") den Medikamentenmißbrauch gestanden. Für Olympia war der »Sportler Nr. 31«, wie DDR-Dokumente ("Vertrauliche Verschlußsache") belegen, mit insgesamt 2720 Milligramm Oral-Turinabol präpariert worden - eine Menge, die selbst den gewiß nicht zimperlichen Sportwissenschaftlern des Leipziger Forschungsinstituts für Körperkultur und Sport unheimlich war. »Der härtere Kampf um die Nominierung«, monierten sie, »drängt Trainer und Sportler zu zu langen Einsatzzeiträumen und hohen Jahressummen.«

Der Zusammenhang zwischen Anabolika-Konsum und dem Risiko lebensbedrohender Spätfolgen zählt noch heute zu den Tabus des Leistungssports. Während die Öffentlichkeit für die muskelbepackten Doping-Frauen inzwischen sensibilisiert ist, gilt die Hormonkur bei Männern weiter als Kavaliersdelikt. Ungerührt verharmlosen Funktionäre und Mediziner die Gefahr.

Doch der Anabolika-Tod kommt immer häufiger. Gerstenberg ist der vorläufig letzte einer langen Reihe von Athleten, die zu Opfern ihres eigenen Ehrgeizes und der Skrupellosigkeit ihrer Betreuer wurden. Allein aus den letzten zehn Jahren sind 19 Sportler namentlich bekannt, deren Exitus auf die übermäßige Einnahme anaboler Steroide zurückzuführen ist; wissenschaftliche Aufsätze berichten von weiteren elf anonymen Todesfällen.

Experten wie der Heidelberger Krebsforscher Professor Werner Franke vermuten - insbesondere in der Ex-Sowjetunion - eine enorme Dunkelziffer: »Sicher über hundert Doping-Tote.«

Rund um den Globus und durch alle Sportarten zieht sich die Todesspur der Hormonpräparate. So starben *___der sowjetische Ruderer Gintas Gidreitis, 26, während ____eines Trainingslagers an einer Herzlähmung; *___der ungarische Diskuswerfer Janos Farago, 38, an Leber- ____und Nierenkrebs; *___der isländische Gewichtheber Pall Sigmarsson, 32, durch ____Herzversagen nach dem Training; *___der amerikanische Football-Profi Lyle Alzado, 42, der ____zusätzlich das Wachstumshormon HGH genommen hatte, an ____einem Gehirntumor; *___der belgische Gewichtheber Serge Reding, 34, an ____Herzversagen; *___der kanadische Eishockey-Profi John Kordic, 27, an ____plötzlichem Herztod.

Während Ignoranten wie der deutsche Olympia-Arzt Joseph Keul noch im vorigen Jahr behaupteten, ihm sei »kein Athlet bekannt, der einen Leberschaden aufgrund von Anabolika« erlitten habe, haben seriöse Wissenschaftler die Modedroge längst überführt.

So berichteten amerikanische Fachzeitschriften bereits 1984 über den »Tod durch Leberkrebs« bei zwei sonst gesunden Sportlern. Drei Jahre später beschreibt eine englische Publikation den tödlichen Riß im Lebertumor eines aus Indien stammenden Bodybuilders.

Bei Anabolika-Konsumenten stellten die Mediziner häufig alle Arten des Gewebezerfalls, Fibrosen und Zirrhosen sowie Zysten und Tumore fest, da die Steroide in der Leber wie eine Zeitbombe wirken. Lebensgefährlich ist der Angriff auf die Leber, wenn weitere Belastungen des Körpers durch Hepatitis, Pharmaka oder Alkohol (wie bei Gerstenberg) hinzukommen.

Die Funktionsstörungen der Leber können auch ursächlich für den »sudden cardiac death of athletes« sein, der in zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen beschrieben wird. Weil weniger Blutfett bindende Eiweiße produziert werden, bilden sich Ablagerungen an den Blutgefäßen. Andere Studien berichten von direkten Einwirkungen anaboler Steroide auf die Herzmuskelstruktur. In den USA warten etliche Football-Profis auf Herztransplantationen, bei Kraftsportlern sind Bypass-Operationen in jungen Jahren keine Seltenheit.

Vor allem der Narziß-Sport Bodybuilding fordert ständig neue Opfer. Weil er sich »zu klein und schwächlich« fand, schluckte der nur 1,58 Meter große Franzose Mohamed ("Momo") Benaziza fast alle anabolen Varianten, die die Apotheke hergab. Im vorigen Herbst brach er nach einem Wettkampf in Den Haag noch auf der Bühne zusammen. Benaziza, 33, erlag einem Lungenödem.

Der Obduktionsbericht des Bodybuilders Maurice Ferranti, 23, aus Sydney hielt fest, daß bei dem Australier zwar das Äußere stimmte ("gut gebaut, sehr muskulös"), er seine inneren Organe jedoch ruiniert hatte. Die Herzkranzgefäße waren »verhärtet«, beide Hoden waren »deutlich atrophiert«.

Auch in deutschen Bodybuilding-Studios kennt die Kundschaft seit 1982 das hohe Risiko. Der Friedrichshafener Weltmeister Heinz Sallmayer starb bei seinem ersten Profi-Auftritt in Atlantic City an Herzversagen.

Doch oft siegt die Lust am eigenen Körper über die Vernunft: Werner Laufer war 19 Jahre alt, als er beschloß, so stark zu werden wie sein Vorbild Arnold Schwarzenegger. Mit Hilfe der chemischen Keule verdoppelte der schmächtige Twen aus dem Schwarzwald beinahe sein Körpergewicht. Die Warnung seines Arztes ("Hör auf mit dem Scheiß") schlug er aus. Im Juli 1988, zwölf Monate nach seinem Bühnendebüt, war Laufer tot. Die Anabolika-Mast hatte bei ihm drei Herzinfarkte und eine akute Herzmuskelentzündung verursacht.

Die gesundheitsschädigenden Wirkungen der »unterstützenden Mittel« (DDR-Lesart) waren auch den Forschern in Leipzig nicht verborgen geblieben. In ihren Dokumenten* hielten sie fest, daß bei der jugendlichen Sprinterin Kerstin Behrendt schon nach zwei Dopingjahren Funktionsstörungen der _(* Brigitte Berendonk: »Doping - Von der ) _(Forschung zum Betrug«. Rowohlt ) _(Taschenbuchverlag, Reinbek; 448 Seiten; ) _(16,90 Mark. ) Leber auftraten. Als sei sie ein Versuchskaninchen, erprobten die Ärzte an der Leipzigerin aber weiter alternative, sogar nicht zugelassene Steroide.

Die Europameisterin schluckte trotzdem weiter das leberbedrohende Oral-Turinabol. Nach dem Absetzen des Präparats, so beschwichtigten die Mediziner, würden »die Werte wieder fallen«. Mit Spätfolgen, wie sie jetzt zum Tod von Detlef Gerstenberg beigetragen haben, wollte sich in der medaillenversessenen DDR niemand beschäftigen.

Zu den Befunden an Herz und Leber spürten die ostdeutschen Dopingspezialisten ein weiteres Phänomen auf: Der Jenaer Sportmediziner Hartmut Riedel ermittelte bei 65 Prozent der Anabolika-Anwender eine »Tonuserhöhung der Skelettmuskulatur«. Diese Muskelverspannung, auch »Hartspann« genannt, ist nach jüngsten Erkenntnissen die Erklärung für den Anfang des Todeskampfes der Mainzer Siebenkämpferin Birgit Dressel (SPIEGEL 37/1987).

Die damals behandelnden Ärzte kannten, weil die DDR ihre Forschung geheimhielt, die Kausalität zwischen Anabolika-Einnahme und Hartspann nicht. Daher bekämpften sie Birgit Dressels Muskelkrämpfe mit immer höheren Mengen von Schmerzmitteln - so als leide sie unter einem eingeklemmten Ischias-Nerv. Der vorgeschädigte Organismus reagierte mit einem allergischtoxischen Schock, an dem die 26jährige Studentin qualvoll starb.

Wäre Riedels geheime Studie vor der Erkrankung Birgit Dressels bekannt gewesen, behauptet der Heidelberger Professor Franke, »hätte die Leichtathletin nicht sterben müssen«. Um so dringlicher fordert er eine »schnellere und lückenlose Aufarbeitung der DDR-Anabolika-Studien«.

Schon vor eineinhalb Jahren wurden Dopingfachmann Riedel, der ehemalige Leiter der Pharmakologie an der Charite, Hansgeorg Hüller, und andere Ärzte wegen »fortgesetzter unethischer Menschenversuche sowie Körperverletzung« angezeigt. Doch die Akten der Staatsanwaltschaft Berlin (AZ 5JUJS3115/91) füllen sich nur mühsam.

Einige der belasteten Mediziner haben sich im deutschen Sport bereits wieder bequem eingerichtet.

In Gerstenbergs Verein Dynamo Berlin versorgte Hans-Joachim Wendler die Werfer mit Anabolika. Der Doktor wirkte jahrelang in den inneren Zirkeln der DDR-Doper mit, war auch bei den vertraulichen Treffen in der Sportschule Kienbaum dabei. Seit Beginn dieses Jahres arbeitet der furchtbare Arzt am Berliner Landesinstitut für Sportmedizin - im Auftrag des Gesundheitssenators ist er dort für die Sportler des Olympia-Stützpunkts zuständig.

* Brigitte Berendonk: »Doping - Von der Forschung zum Betrug«.Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek; 448 Seiten; 16,90 Mark.

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