Kriminalität SCHWEIG ODER STIRB
In Cliff Temples Leben war in letzter Zeit einiges in Schieflage geraten. Vor 18 Monaten nahm seine Frau die vier Kinder und zog aus, zu einem anderen Mann. Die Trennung kostete viel Geld: Temple, langgedienter Leichtathletik-Reporter der Londoner Sunday Times, drückten finanzielle Probleme. Auch regelmäßige Besuche bei einem Psychiater konnten seine Depressionen nicht lindern.
Anfang Januar warf sich Temple, 46, neben seiner Berichterstatter-Tätigkeit in der britischen Leichtathletik-Szene auch als erfolgreicher Trainer bekannt, nahe seiner Heimatstadt Folkestone (Grafschaft Kent) vor einen Schnellzug.
Doch weder Freunde, Kollegen noch sein Seelenarzt glauben, daß die privaten Probleme den Reporter in den Freitod getrieben haben. Bei Temples Begräbnis am vergangenen Montag sprach das britische Sportidol Steve Ovett, ein ehemaliger Weltklasseläufer, den 400 Trauergästen aus dem Herzen. Auf seinem Kranzgebinde stand: »Für Cliff - der sein Leben für einen verabscheuungswürdigen Sport gelassen hat.«
Der Tod des Journalisten, so glauben viele Leichtathletik-Experten, ist eng verknüpft mit seinen letzten Recherchen. Temple war einem Mann auf der Spur, den sie auf der Insel beinahe andächtig »Mister Big« nennen.
Laut Dienstvertrag eigentlich nur für die Werbung zuständig, stieg der ehemalige Polizist Andy Norman, 50, in den letzten Jahren zum »mächtigsten Mann in Britanniens Leichtathletik« (The Independent on Sunday) auf. Bei der steilen Karriere, so hatte Temple erfahren, soll nicht jedes Geschäft von Mister Big ganz sauber gewesen sein. Es ging um finanzielle Tricksereien, aber auch, so vermuten Kollegen, um Doping-Verstrickungen der britischen Leichtathleten.
Norman reagierte mit Rufmord. Das von ihm gestreute Gerücht, der Reporter habe junge Sportlerinnen sexuell belästigt, sollte den unbequemen Fahnder von der Sunday Times zum Schweigen bringen - es brachte Cliff Temple näher an den Tod.
Das tragische Ende des Journalisten ist bereits der dritte mysteriöse Todesfall der internationalen Sportszene, bei dem die Motive wohl nie endgültig geklärt werden. Auffällig ist jedoch, daß alle drei Opfer auch mit jenem Bereich in Kontakt gerieten, der immer noch salopp »Doping-Szene« genannt wird. Doch der Begriff umschreibt längst nicht mehr nur jene Ansammlung erfolgshungriger Athleten, die den Konsum von Muskelpillen als Kavaliersdelikt betrachten.
Der Anabolika-Schwarzmarkt ist in den letzten Jahren explodiert. Als Interpol für eine »Internationale Anabolika-Konferenz« im Dezember letzten Jahres weltweit eine exakte Analyse einforderte, wuchsen die Antworten zu einem Sammelband des Schreckens.
Allein in den USA, die die exaktesten Zahlen beitrugen, wird beim illegalen Handel mit den Kraftmachern jährlich eine halbe Milliarde Dollar umgesetzt. Die Gewinnspannen sind so lukrativ, daß bereits einige Kokain-Ringe auf den Steroid-Markt ausgewichen sind. Und mit dem Organisierten Verbrechen kamen auch mafiaähnliche Methoden.
Innerhalb von 28 Monaten, so weist die US-Statistik aus, wurden Hilfsmittel der Dealer im Wert von über 1,5 Millionen Dollar beschlagnahmt, vom Kurierfahrzeug über Waffen bis hin zu kompletten Laboratorien. Neue restriktive Gesetze, resümiert die Food and Drug Administration (FDA), treibe die Verteilerbanden zunehmend in den Untergrund - gerade so, als gebe es eine Neuauflage der Prohibition. Fahndungserfolge sind da eher zufällig.
Der Haftbefehl gegen den früheren Arzt des kanadischen Sprinters Ben Johnson konnte in der letzten Woche nur vollstreckt werden, weil das Flugzeug, mit dem Jamie Astaphan von Antigua nach Toronto fliegen wollte, wegen schlechten Wetters in den USA zwischenlanden mußte.
Insgesamt wurden mehr als 2,5 Millionen »Dosierungseinheiten« beschlagnahmt und 283 Dealer verhaftet; angesichts des Massendopings von knapp drei Millionen Amerikanern, wie die FDA schätzt, aber nur ein bescheidenes Resultat.
Dazu trägt auch jenes »Schweig oder stirb« bei, das mit der gestiegenen kriminellen Energie ebenfalls vom Drogenmilieu in die Dopingszene übertragen wurde. Lange hatten Anwälte der »California Five«, des bisher größten Anabolika-Verteilerrings der USA, eine Verurteilung des Hauptangeklagten verhindert. Der Staatsanwalt baute deshalb den bereits abgeurteilten Charles Lewis Silcox nach seiner Haftentlassung zum Kronzeugen auf. Doch wenig später war der Dealer tot - er wurde in einem fremden Apartment erstochen.
Ebenso mysteriös sind die Umstände, unter denen im letzten Sommer der Silbermedaillengewinner von 1964, Josef Odlozil, zu Tode kam. Der ehemalige tschechische Weltklasseläufer, der 1968 nach den Spielen in Mexiko-Stadt die Turnkönigin Vera Caslavska geheiratet hatte, wurde in der Dorf-Disco des mährischen Domasov bewußtlos geschlagen und starb einen Monat später, ohne aus dem Koma erwacht zu sein.
Odlozil, der nach seiner Karriere als Sportwissenschaftler arbeitete, hatte sich in jüngster Zeit der Anti-Doping-Kampagne verschrieben. Freunde glauben, daß er unmittelbar vor seinem Tod Dokumente fand, die die früheren Dopingpraktiken der CSSR aufzeigen. Sie vermuten, daß die angebliche Wirtshausschlägerei ein Racheakt der Anabolika-Mafia gewesen ist.
Gerade in den Ländern, die früher staatlich kontrolliertes Doping betrieben, erweisen sich die Anabolika als profitables Schmuggelgut. »Große Anabolika-Ströme aus Osteuropa« hat der schwedische Reichspolizeichef Björn Eriksson ausgemacht; der finnische Zoll beschlagnahmte 123 000 Steroidtabletten, die in Surfbrettern aus dem estnischen Tallinn eingebacken waren; die dänische Polizei fand 2795 russische Tabletten in Briefen an Gewichthebertrainer.
Die Deutschen schließlich hoben im Keller eines Einfamilienhauses eine Produktionsstätte aus, in der zwei Polen und ein Deutscher Pillen mit einem Verkaufswert von 1,4 Millionen Mark hergestellt hatten. Einrichtung und Rohstoffe im Schwarzmarktwert von drei Millionen Mark waren aus Polen herbeigeschafft worden.
Auch auf dem westeuropäischen Wachstumsmarkt wird der Umgangston rauher. Als ein ostdeutscher Trainer auspacken wollte, wurde ihm während der Anhörung das Auto demoliert. In Hessen und Sachsen erhielten Aussagewillige Pistolenkugeln zugesandt.
Über 100 dopingkritische französische Athleten baten in einem offenen Brief den IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch um Schutz, weil sie die »physische Unversehrtheit der Aufklärer bedroht« sahen. Dieses Klima wird von Leuten mitbestimmt, die den Sport ausschließlich aus dem Blickwinkel der Gewinnmaximierung betrachten.
Die Hilflosigkeit der Athleten wächst beinahe täglich: Sie können nicht mehr unterscheiden, wer wann und wo die Grenzen zur Illegalität überschreitet, was an den Gerüchten wahr und was Hysterie ist.
Auch der bullige Ämterschacherer Norman geriet im Zusammenhang mit - unbewiesenen - Dopingvorwürfen ins Zwielicht. Ebenso wurde er auffällig als Förderer eines Leichtathletik-Klubs, den seine Verlobte Fatima Whitbread, ehemalige Weltrekordlerin im Speerwerfen, gegründet hatte. Norman soll durch finanzielle Versprechungen im Namen des Verbandes Top-Athleten dazu gebracht haben, dem Verein seiner Lebensgefährtin beizutreten.
Mister Big entscheidet in England über den Einsatz der Athleten bei großen Wettkämpfen. Bei inländischen Sportfesten tritt er gleichzeitig als Veranstalter auf und setzt die Höhe der Siegprämien fest. Zudem vertritt er auch noch die Interessen von Spitzensportlern wie Sprintweltmeister Linford Christie.
Bei seinen Recherchen hatte Sunday Times-Reporter Cliff Temple im vergangenen Jahr offenkundig handfeste Ergebnisse vorzuweisen. Denn im Juli 1993 erhielt er einen Telefonanruf Normans, in dem der ihm bei weiteren Ermittlungen unverblümt Enthüllungen über angebliche sexuelle Belästigungen der Läuferin Shireen Bailey androhte. Das Telefonat, so weist das Protokoll eines Mitschnitts aus, beendete Norman so: »Ich möchte gar nicht erst zu solchen Ekelhaftigkeiten greifen müssen. Du weißt ja, ich bin für so was nicht der Typ.«
Dabei hatte Norman schon 1992 einen BBC-Reporter, der an einer Dokumentation über die verschlungenen Geschäfte des Multifunktionärs arbeitete, als Verführer junger Schwimmerinnen bezichtigt - ohne jeden Beweis.
Am BBC-Mann prallte die plumpe Einschüchterung wirkungslos ab. Doch Cliff Temple, durch seine familiären Tragödien seelisch schwer angeschlagen, konnte das »Kesseltreiben« (Sunday Times) nicht verkraften. Zumal Mister Big die rufmörderischen Behauptungen schließlich mehrfach vor anderen Journalisten wiederholte. Im August, bei der Leichtathletik-WM in Stuttgart, streifte Temple unabsichtlich Normans Schulter. Dessen Reaktion: »Wage es nicht, mich anzurühren, du Perverser.«
Immer häufiger fiel Temple in Depressionen, vor Freunden beklagte er die »Hoffnungslosigkeit« seiner Lage. Der ehemalige 5000-Meter-Weltrekordler Dave Moorcroft: »Die Vorwürfe kamen für ihn zur schlechtesten Zeit und haben ihn zerrissen.«
Nicht einmal eine öffentliche Ehrenerklärung des angeblichen Opfers konnte Temple seine selbstzerstörerischen Ängste nehmen. Shireen Bailey nannte die Vorwürfe »lächerlich« und bescheinigte ihrem Trainer, »ein absolut ehrlicher und aufrichtiger Mann« zu sein.
Nach einem Beschwerdebrief der Sunday Times an den Britischen Leichtathletik-Verband (BAF) versprach Norman seinen Vorgesetzten, die Anschuldigungen nicht mehr zu wiederholen. Dabei beließ es BAF-Vorsitzender Peter Radford; für Norman blieb die Schmutzkampagne ohne Folgen.
Doch nach dem Selbstmord Temples müssen sich die Verbands-Oberen mit den Machenschaften ihres Angestellten erneut beschäftigen. Die Vereinigung der britischen Sportjournalisten fordert eine strenge Untersuchung, für sie sollte Strippenzieher Norman in »unserem Sport künftig keine Rolle mehr spielen dürfen«.
BAF-Chef Radford räumt ein, daß der Verleumdungsskandal »der Verbandsreputation nicht guttut«. Doch weitere Schritte plant er vorerst nicht.
Es gibt auch Wichtigeres zu tun. Kommendes Wochenende findet im schottischen Glasgow ein internationales Leichtathletik-Meeting statt. Veranstalter und Organisator: Andy Norman. Y