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SKISPRINGEN Seelenstriptease auf Befehl

Martin Schmitt kann wieder fliegen. Zu verdanken hat er das seinem neuen Trainer Werner Schuster, einem Psychologen aus Tirol.
aus DER SPIEGEL 8/2009

Werner Schuster ist Cheftrainer der deutschen Skispringer, er sitzt im Auto und erklärt, wie er Martin Schmitt wieder in Form gebracht hat: »Ich habe ihn zunächst mal nackt ausgezogen.«

Schuster ist unterwegs von Mieming, einer Gemeinde in Tirol, wo er wohnt, zum Weltcup nach Willingen. Er hat gerade erst die Grenze passiert, es dauert noch Stunden bis ins Sauerland, viel Zeit also, um zu erzählen.

»Ich habe Martin zu einem Seelenstriptease gezwungen«, sagt Werner Schuster. Der Österreicher ist seit vorigem April Bundestrainer, zu Beginn seiner Amtszeit verordnete er den deutschen Springern eine Tour mit dem Mountainbike, es ging von Garmisch nach Oberstdorf, über hundert Kilometer durch die Berge.

»Diese Belastung sind die Athleten nicht gewohnt, Ausdauer ist im Skispringen ja nicht so wichtig. Ich wollte sehen, wie groß ihr Kampfgeist ist, ihre Bereitschaft, sich zu quälen. Ich wollte ihr Innerstes bloßlegen.«

Und? Was hat er gesehen?

»Keiner hat gejammert. Auch Martin hat nie aufgesteckt. Ich weiß seitdem, er will seinen Helm nicht nur spazieren tragen, er würde auch ohne ihn von der Schanze springen, wenn's ihm nützt.«

Martin Schmitt ist Olympiasieger, er war viermal Weltmeister, zweimal Weltcup-Gesamtsieger, aber das ist lange her. Sein letztes wichtiges Springen gewann er im März 2002, danach segelte er nicht mehr wie eine Feder von der Schanze, sondern fiel meist runter wie ein Stein. Er ruinierte fast seinen Namen, vergangenen Winter startete er sogar im Continental Cup, in der zweiten Liga des Skispringens. In dieser Saison sprang er schon dreimal aufs Podest, Rang drei in Innsbruck und Zakopane, mit dem Team schaffte er es in Kuusamo.

Schuster hat auch Stephan Hocke aus der Krise geholfen. Vor sieben Jahren, mit 18, holte er olympisches Gold, dann stürzte er ab. Schuster feilte an Hockes Flugsymmetrie, wieder und wieder, die Leistungen werden besser.

Schuster sagt, er sei froh, dass seine Arbeit bereits Früchte trage, doch sein Optimismus ist zurückhaltend: »Wir bewegen uns noch auf dünnem Eis.« Erst die Weltmeisterschaft, die Mittwoch in Liberec, in Tschechien, beginnt, werde zeigen, ob es sich »um eine kurze Hochphase handelt oder um einen stabilen Aufschwung«. Mit der Mannschaft sei eine Medaille möglich, sagt er, sein Ziel aber sei ein Platz unter den ersten drei in der Nationenwertung.

Schuster, 39, hat Sport und Psychologie studiert, »Skispringen ist Kopfsache«, sagt er, und als er Bundestrainer wurde, musste er zuerst das Selbstbewusstsein der Springer aufbauen. Musste ihnen Spaß und Lockerheit vermitteln. »Die Athleten hatten den Glauben an sich verloren, sie waren sehr in sich zurückgezogen.«

Die größte Herausforderung war Martin Schmitt. »Er ist ein introvertierter Mensch, in der Vergangenheit musste er immer sein Gesicht herhalten, selbst wenn er es nicht wollte. Er begann, eine Mauer um sich zu bauen, sie wurde immer höher. Und jetzt reißt er sie langsam wieder ein.«

Man könne einen Sportler nicht starkreden, sagt Schuster, zumindest nicht langfristig, was ein Sportler brauche, um seinen Fertigkeiten wieder zu trauen, sei Erfolg. »Dabei spielt es erst mal keine Rolle, worin der Erfolg besteht.« Er hat Schmitt zum Turnen geschickt, hat ihm Flickflack beigebracht, Salti und Schrauben.

Schuster war selbst Springer, als Teenager trainierte ihn Alois Lipburger am Ski-Gymnasium in Stams. Er ist überzeugt, erfolglose Athleten sind später die besseren Lehrer, »weil sie ihren Erfolgshunger noch stillen müssen«. Schusters bestes Resultat als Springer im Weltcup war ein zweiter Platz, als Trainer hat er seinen Landsmann Thomas Morgenstern geformt, Doppel-Olympiasieger 2006, letzten Winter Weltcup-Gesamtsieger.

Der neue Bundestrainer hat wenig gemein mit seinen Vorgängern. Wolfgang Steiert geriet jede Geste, jeder Satz zu groß, sein Ego stand in keinem Verhältnis zu seiner Bilanz. Und Peter Rohwein war still, zu still, ihm mangelte es an Kommunikationsfähigkeit. Erfolglos waren beide.

Schuster hat den deutschen Skisprung reformiert, das Ausbildungssystem neu strukturiert. In den Leistungszentren in Oberhof, Hinterzarten und Oberstdorf arbeiten die Springer mit ihren Heimtrainern nach seinen Vorgaben, die Übergänge zwischen Jugend und Senioren, zwischen A-Kader und B-Team sind nun fließend.

Die Erwartungen in Deutschland sind hoch, Schuster braucht guten Nachwuchs, Schmitt läuft die Zeit davon. »Er hat die Chance, bis zu den Olympischen Spielen nächstes Jahr in Vancouver zur erweiterten Weltspitze zu zählen. Vielleicht noch 2011 bei der WM in Oslo. Aber die Leistungsstärke, die er mal hatte, wird er nie mehr erreichen. Das weiß Martin auch selbst.«

Wie gut kann Schmitt wieder werden?

»Wenn Martin es aufs Podest schafft, ist das schon ein Riesenerfolg. Es kann auch gelingen, ein Springen zu gewinnen. Aber wann das passieren wird und wie oft, das vermag ich nicht zu prognostizieren. Das hängt auch von den Gegnern ab.«

Das Auto hält auf dem Weg nach Willingen, ein Springer steigt zu. Schuster hört auf zu erzählen. Seine Reise mit dem Team geht weiter. MAIK GROßEKATHÖFER

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