Sex im Gespräch
Ein Begleitschreiben der Münchner Nervenheilanstalt Haar kündigte den Patienten als kontaktunfähig an. Im Münchner Gesundheitspark trainierte er Selbstvertrauen und Malen. Inzwischen ist er aus der Heilanstalt entlassen; seither schicken die Ärzte ständig Patienten ins Olympiastadion.
Zwei Selbstmordversuche hatte ein anderer Patient hinter sich. Die Psychologen unter der Stadiontribüne analysierten die Ursache: unausgetragene Ehekonflikte. Er beteiligte sich mit seiner Ehefrau am Partnerschaftstraining -- mit Erfolg.
»Auf der ganzen Welt gibt es kein Vorbild«. sagte Rainer Haun, 41, Pädagoge und Geschäftsführer des Gesundheitsparks, über das Münchner »Modell ganzheitlicher Gesundheitspflege« mit einem Angebot von Goethe bis Gymnastik in umgebauten Kabinen, die 1972 dazu gedient hatten, die Wehwehchen der weltbesten Athleten zu behandeln.
Seit dem Olympia lagen die labyrinthartigen Katakomben unterhalb der Tribünen so gut wie brach. Dann gestaltete die Münchner Volkshochschule im Sommer 1973 etwa 3500 Quadratmeter um und bot ein Jedermannprogramm zur physischen und psychischen Gesundung und Gesunderhaltung an. Je zur Hälfte standen Gymnastik und Trimmkurse sowie psychologisch-pädagogische Programme zur Wahl. Viele Gruppen sind offen: Besucher dürfen während der Veranstaltungen etwa von Begegnungsspielen zur Jazz- und Popgymnastik, zum Experiment »Farbklecksen macht Spaß« überwechseln.
Kurse wie »Sex im Gespräch« Lind eine gemischte Sauna schreckten die Konservativen auf. »Pleiteunternehmen«, gab CSU-Stadtrat Peter Gauweiler vor. Vor allem die CSU-Opposition im Stadtrat versuchte, den Subventionshahn zuzudrehen.
Da bildeten Anhänger des Experiments eine Bürgerinitiative, sammelten 3500 Unterschriften und gründeten einen Förderverein, der die Fortsetzung des Versuchs sicherstellen soll. Sie hatten »erheblichen Anteil«, bestätigte Geschäftsführer Haun, daß die Stadt München für 1975 doch noch die erforderlichen 600 000 Mark Zuschuß bewilligte. Jüngst gewährte sogar das Bonner Familienministerium 100 000 Mark Forschungsmittel.
Auf Subventionen bleibt Haun mit seinen zwölf angestellten Lind 20 Honorarhelfern allerdings angewiesen: Die Personalkosten übersteigen die möglichen Einnahmen aus Eintrittsgeldern (abends: fünf Mark). Vor allem psychologische Arbeit verspricht nur im begrenzten Teilnehmerkreise Erfolg. »Mit 400 Besuchern sind wir ausgelastet«, rechnet Haun vor. »So viele sind schon gekommen. Nur nachmittags ist noch Platz.«
Umbau und Ausgestaltung der Räume kosteten etwa 500 000 Mark. 400 000 Mark Starthilfe schossen die Versicherungen LVA, BfA und AOK ein. Im Schnitt aller Veranstaltungen erreichte die Münchner Volkshochschule (Jahreskosten: 3,8 Millionen Mark) 45 bis 50 Prozent Eigendeckung. »Das ist unser Ziel auch für den Gesundheitspark«, strebt Haun an.
Nach einem Jahr haben sich aus täglich fast 50 Kursen und Vorträgen Schwerpunkte ergeben: »Als Hit hat sich das autogene Training erwiesen«. bestätigte Haun. »Da laufen fünf Kurse nebeneinander.« Das von Psychologen und Psychotherapeuten geleitete Kontakt- und Partnerschaftstraining sowie Gymnastik sind überlaufen. 1975 stopfen die Organisatoren auch den bisher freien Dienstag mit Kursen voll. Das Thema Konflikte im Beruf nehmen sie neu ins Programm.
Lebenshilfe bieten Kontakt- und Selbstsicherheitsübungen, die kontaktscheue Menschen soweit lockern, bis sie imstande sind, über ihre Schwierigkeiten zu sprechen. Die Therapeuten entfachten Diskussionen, damit Eheleuten die Ursachen ihrer Partnerprobleme bewußt werden. Malend arbeiten sich gehemmte Menschen an ihre persönlichen Schwierigkeiten heran; durch die Berührung anderer überwinden sie Hemmungen. Übungen mit Partnern. von denen sie sieh blindlings führen lassen« wecken bei Kontaktscheuen verlorenes Vertrauen wieder.
Teils sogar auf Kassenkosten versuchen Übergewichtige durch Verhaltenstherapie und unterstützt von Leidensgenossen ihre Eßgewohnheiten zu ändern, trachten Raucher vom Nikotin loszukommen. Ärzte beaufsichtigen Infarktgeschädigte beim Rehabilitationstraining -- die Ehefrauen trainierten mit. Allen Besuchern stehen Phonobar und Diskothek ebenso wie der Fitnessraum und die Gesundheitsbibliothek offen. Auf den weichen Kissen im abgedunkelten Musikentspannungszimmer -- getrennt nach Klassik und Pop -- darf nach Ansicht des Geschäftsführers »ruhig mal geschmust werden«.
Lernprozesse hatten auch die Lehrer zu bewältigen. Besonders anfangs erhoben sich heftige Proteste gegen Soziologen-Chinesisch und Fachlatein ("metakommunikative Axiome"). Seither fordern sie die Kursanten auf, ihre Erwartungen und Wünsche anzumelden.
Enttäuschungen blieben nicht aus. Durch eine Plakat- und Handzettelaktion wollten die Mitarbeiter des Gesundheitsparks unter den Fußballanhängern des FC Bayern München im Olympiastadion neue Kunden werben. Doch das Angebot ließ die Fans kalt. Statt dessen verwarnten die Behörden Hauns Mannschaft wegen unzulässiger Werbung.