LOTUS Siege auf der Pritsche
Der Fahrer stemmte sich aus dem Cockpit des Rennwagens, massierte seinen Nacken und erklärte: »Ich glaube, in dieser Haltung wird man schneller müde. Schon nach ein paar Runden tat mir das Genick weh.«
Ursache der Genickschmerzen des schottischen Rennfahrers Jim Clark war, daß er - beim »Großen Preis von Monaco« im Jahre 1962 - den neuen britischen Rennwagen vom Typ »Lotus 25« aus Konstruktionsgründen in ungewöhnlicher Haltung steuern mußte: Er lag auf dem Rücken.
Der erste Horizontal-Rennfahrer in der Geschichte der Grand-Prix-Rennen hat sich der ungewöhnlichen Fahrhaltung inzwischen so gut angepaßt, daß er heute erfolgreichster Fahrer der Saison ist und mit weitem Vorsprung die Weltmeisterschaftswertung anführt*. Im Kampf um die Großen Preise von Belgien, Holland und Frankreich hängte der 27jährige Schotte alle Konkurrenten ab. »Die Kombination Lotus-Clark«, schrieb das deutsche Fachblatt »Auto, Motor und Sport«, »ist zweifellos die stärkste Waffe im heutigen Grand-Prix-Sport.«
Waffenschmied und Verantwortlicher für die fast horizontale Fahrerposition ist der britische Konstrukteur Colin Chapman. Es war nicht die erste neuartige technische Idee des Chefs der Firma »Lotus«. Schon im Jahre 1960 hatte er die Konkurrenz durch »eine wahre Umwälzung im Rennwagen -Chassisbau« (so die Schweizer »Automobil Revue") überrascht. Damals fertigte er auf einem aus vielen dünnen Stahlrohren geschweißten Chassis einen ungewöhnlich flachen, leichtgewichtigen und daher enorm schnellen Formel -Rennwagen.
Doch blieb Chapman der erhoffte durchschlagende Erfolg in den Weltmeisterschaftsrennen versagt, weil die Konkurrenten dieselbe Bauweise anwandten, bevor noch der flache »Lotus« seine Kinderkrankheiten überwunden hatte. Chapmans Bauprinzip wurde zum Standardrezept im Rennwagenbau.
Um sich abermals einen technischen Vorsprung zu verschaffen, ersann Chapman eine neue Konstruktion. Dabei verzichtete er auf das gebräuchliche Rohrrahmenchassis und fertigte statt dessen ein neuartiges Kastenchassis, das - mit Ausnahme einiger tragender Querverbindungen - aus gepreßten Blechen bestand.
Resultat war der im vergangenen Jahr erstmals gestartete »Lotus 25« - der niedrigste, luftwiderstandärmste und leichteste Rennwagen, der innerhalb der heute gültigen Formel je gebaut wurde. Der »Lotus 25« erreichte als einziger das für Rennwagen zulässige Minimalgewicht von 450 Kilogramm.
Chapmans neues Renn-Auto, dessen Blechbauweise der Konstrukteur zum Schutz vor Nachahmern als Patent anmeldete, wurde in Fachkreisen als technische Sensation gewertet. Doch ebenso außergewöhnlich war, daß der »Lotus 25« aufgrund seiner Konstruktion auch eine neue Fahrhaltung verlangte.
Noch bis zum Zweiten Weltkrieg saßen die Rennfahrer in der gleichen Haltung hinter dem Lenkrad, in der einst Caracciola und Rosemeyer ihre Siege herausgefahren hatten: Aufrecht und mit stark angewinkelten Armen. Den letzten Vorkriegs-Rennwagen von Daimler-Benz konnten die Fahrer nur besteigen oder verlassen, nachdem das
Lenkrad abgeschraubt war. Die enge Lenkhaltung wurde dem Engländer Richard Seaman 1939 beim »Großen Preis von Belgien« zum Verhängnis: Seaman kam in den Flammen seines verunglückten Mercedes um, weil die Helfer den Verschluß des Lenkrads nicht zu lösen vermochten.
Nach dem Krieg führten der argentinische Weltmeister Fangio und sein italienischer Gegner Ascari eine andere Fahrhaltung ein. Auch sie saßen zwar noch aufrecht im Cockpit, hatten aber mehr Abstand zum Lenkrad und steuerten mit weniger stark angewinkelten Armen.
Die Fahrer der nächsten Generation versanken nach dem Willen der flachbaubesessenen Konstrukteure immer tiefer im Cockpit und mußten sich an eine gestrecktere, lehnstuhlartige Sitzposition gewöhnen. Schließlich präsentierte Chapman mit seinem »Lotus 25« den bisher radikalsten Flachbau-Rennwagen, der nicht mehr von einem Fahrersitz, sondern von einer Art Pritsche aus gesteuert wird.
Chapman hatte das Auto offensichtlich seinem fähigsten und zugleich schmächtigsten Fahrer, Clark, auf den Leib geschneidert. Tatsächlich gelang es Clark erst mit dem »Lotus 25«, im vergangenen Jahr zur Spitze der Fahrer-Elite vorzustoßen.
Einer breiteren Öffentlichkeit war Clark zwar schon 1961 durch seine Beteiligung am Rennunfall des Deutschen Wolfgang von Trips in Monza
- Trips und 16 Zuschauer kamen dabei ums Leben - bekannt geworden.
Als Clark jedoch - privat Züchter von schottischen Schafen und hornlosem Rindvieh - 1962 mit seinem »Lotus 25« nur durch einen Motordefekt im letzten Rennen die Weltmeisterschaft verfehlte, wurde er für die Engländer »der neue Stirling Moss«.
Die diesjährige Siegesserie des Moss -Nachfolgers entspricht der strategischen Konzeption, mit der Konstrukteur Chapman seiner Marke zum erstenmal die Weltmeisterschaft sichern möchte. Der »Lotus«-Chef kalkulierte nicht nur ein, daß sein Wagen bei etwa gleicher Motorleistung weniger Luftwiderstand als die Konkurrenz bietet und außerdem 20 Kilo leichter ist: Auch Fahrer Clark (65 Kilo) wiegt zehn Kilo weniger als seine gefährlichsten Gegner.
* Nach vier (von zehn) Rennen führt Clark mit 27 Punkten vor dem Engländer Hill (13 Punkte). Pro Rennen werden die sechs Schnellsten nach einem Punktsystem (9 - 6 - 4 - 3 - 2 - 1 Punkte) bewertet. In der Gesamtwertung zählen pro Fahrer die fünf besten Resultate.
Mercedes-Rennfahrer Caracciola (1936): Der Favorit liegt ...
... auf dem Rücken: Lotus-Rennfahrer Clark (1963)